Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Die Faszinatio­n des Einfachen

Gerd Müller, der beste deutsche Stürmer, wird heute 75 – und kämpft gegen das Vergessen

- Von Andreas Berten

Es gibt zig Anekdoten über Gerd Müller, aber diese ist eine ganz besonders schöne und sagt viel über ihn aus. Sie stammt aus Müllers drittem Leben. Im ersten war er der unnachahml­iche Torjäger, der wohl größte Stürmer in der Geschichte des deutschen Fußballs. Im zweiten war er der gestürzte Held, der vom Feierabend­bierchen in den Alkoholism­us gerutscht war und nach privaten wie finanziell­en Problemen aus der Gosse geholt werden musste. Im dritten aber, da war er wieder der Bomber der Nation, zu dem alle aufschaute­n.

Gerd Müller war also in den 90erjahren zu Besuch in Bochum. Hermann Gerland, damals Trainer der Amateure des FC Bayern, führte seinen Assistente­n eines Tages durch seine Heimatstad­t. Sie machten hier und da Halt, aßen und tranken, plauderten, mussten aber beim Verlassen des Lokals nie die Zeche blechen. „Er dachte wirklich, dass wir nicht zahlen mussten, weil ich aus Bochum komme“, erinnerte sich Gerland an den Ausflug, ehe er dem verdutzten Müller erklärte, warum ihnen nichts in Rechnung gestellt worden war: „Bomber, ich muss hier immer zahlen. Die wollen kein Geld, weil du hier bist.“

Im dritten Jahrzehnt des dritten Jahrtausen­ds angekommen, ist der Profifußba­ll voll von Riesen und noch mehr Scheinries­en. Gerd Müller aber ist ein Mythos dieser Sportart. Wenn Spieler heute schwadroni­eren, das Spiel sei ihr Leben, dann hat Gerd Müller dem Fußball ein Leben, einen Sinn geschenkt. Als einst Inszenieru­ng und Vermarktun­g zunahmen, stand er noch immer für puren Fußball: Tore schießen, stets eins mehr als der Gegner. Gerd Müller tat dies in einer Art und Weise und so häufig wie niemand anderes davor oder danach.

Umso trauriger stimmen Familie, Wegbegleit­er und schlichtwe­g jeden Fan die Nachrichte­n unmittelba­r vor seinem 75. Geburtstag am heutigen Dienstag: Seit fünf Jahren und ein paar Monaten raubt dieses verflucht heimtückis­che Alzheimer Müllers Gedächtnis, er muss in einem Pflegeheim nahe München betreut werden. „Der Gerd schläft seinem Ende entgegen. Er schläft langsam hinüber“, sagte nun seine Frau Uschi der Bild-zeitung und schilderte eine „traurige Lage“, die nicht viele weitere Geburtstag­e in Aussicht stellt: „Ich hoffe, dass er nicht nachdenken kann über sein Schicksal, über seine Krankheit, die dem Menschen die letzte Würde raubt.“

Tore! Tore! Tore! 68 Mal ließ es der Welt- und Europameis­ter von 1974 beziehungs­weise 1972 in 62 Länderspie­len müllern, 14 Treffer gelangen ihm bei nur zwei Wm-teilnahmen. Von 365 Toren in 427 Bundesliga­spielen erzielte er allein 40 in der Saison 1971/72 – es ist keine generelle Missgunst, aber irgendwie wäre es doch wünschensw­ert, Bayerns aktueller Topstürmer Robert Lewandowsk­i würde diesen Rekord des siebenmali­gen Torschütze­nkönigs nicht mehr brechen.

Viermal wurde Müller mit München Meister, dreimal gewann er von 1974 bis 76 den Europacup der Landesmeis­ter. Man muss sich vorstellen, was so ein Fußballer heute verdienen würde, der die Bayern nicht für vom FC Barcelona angebotene 600.000 Mark Jahresgage verlassen wollte. Mit der Begründung: „I mog ned, i kann doch ned mehr als a Schnitzel am Tag essen.“

Es war die Faszinatio­n des Einfachen, die den jungen Mann aus Nördlingen zum gefürchtet­sten Stürmer der Welt machte. „Kleines, dickes Müller“, wie ihn sein Entdecker Tschik Cajkovski seit dem Wechsel zum FC Bayern 1964 nannte, weil er so dicke Oberschenk­el und ein Faible für Kartoffels­alat hatte, traf mit den Füßen, dem Kopf, der Hacke, dem Bauch, wenn er explosiv angetreten war und den Verteidige­r mit einer Körpertäus­chung gelinkt hatte. Er wuchtete, stocherte, spitzelte den Ball ins Tor.

„Wie oft habe ich im Training zu ,Katsche’ Schwarzenb­eck gesagt: So, jetzt hau’n wir ihn um“, erinnerte sich Franz Beckenbaue­r. „Und was war? Eine Drehung, noch eine, und Katsche und ich haben auf dem Arsch gesessen. Und der Gerd war weg.“Müller war ein Schlitzohr. Unvergesse­n bleibt, wie Müller im Wm-finale 1974 in München den Siegtreffe­r zum 2:1 gegen Johan Cruyffs Niederland­e erzielte. Hintern raus, drehen, abziehen – Tor. „Ich habe schönere Tore gemacht, aber das wichtigste war dieses Weltmeiste­rtor“, sagte er einst.

Geltungsdr­ang und Geschäftig­keit waren nie sein Metier. Als die Ehe zu zerbrechen drohte und die Existenz auf dem Spiel stand, überredete ihn sein Freund Uli Hoeneß zu einem Alkoholent­zug und gab ihm den Job als Co-trainer bei der zweiten Mannschaft des FC Bayern, den er bis 2014 ausübte. „Ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich es wohl nicht geschafft“, sagte Müller. Auch wenn er sich selbst längst nicht mehr an sein Werk erinnern kann: Der Fußball lässt ihn nie in Vergessenh­eit geraten.

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FOTO: IMAGO Gerd Müller 1975 im Bayern-trikot.

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