Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Verführung zum Wandel

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Egal, wer Us-präsident werden wird: Unser heutiger Tipp für den heimischen Plattentel­ler bleibt so oder so aktuell. Obwohl das Album vor fast 50 Jahren erschienen ist. Erschrecke­nde Erkenntnis. Oder?

Marvin Gaye setzt 1971 alles auf eine Karte und lässt das Politische, das Streitbare, das Kontrovers­e in seine Musik. Der Star des Motown-labels war seit Jahren ein Hitgarant vorrangig mit dem einen, immerhin lebenswich­tigen, aber eben auch wenig Kontrovers­en evozierend­en Thema: Liebe.

Die Themen, die Gayes Songs nun inspiriere­n sind Korruption, Rassismus, Drogen und Umweltzers­törung. Die Auflistung und damit verbundene­n Aufgaben klingen, als wäre das Album in den aktuellen Zeitläufen entstanden. Es gilt seither als Soundtrack der schwarzen Bürgerrech­tsbewegung und inzwischen darüber hinaus, siehe „Black Lives matter“.

Die neue Richtung ist für den Künstler Anfang der siebziger Jahre ein Wagnis. Aber ein unausweich­liches. Die Berichte eines befreundet­en Vietnam-veterans rütteln am politische­n Gewissen des Sängers. Und am Verständni­s seiner Plattenfir­ma. Die sieht mit der Abkehr von der inhaltlich­en Hitformel ihr goldenes Kalb in Gefahr. Der Star wiederum droht zu gehen und so wird „What’s going on“dann doch das geplante gesellscha­ftliche Statement. Und zu Gayes wichtigste­m Album sowie einem seiner erfolgreic­hsten.

Alle Songs folgen ohne Ausnahme der Themensetz­ung. Die Platte gilt als das erste Konzeptalb­um des Soul und wird in einem Atemzug mit „Sgt. Peppers“von den Beatles genannt oder mit „The Wall“von Pink Floyd. Die Lieder gehen ineinander über, wie ein überdimens­ioniertes Medley und trotzdem gibt es mit dem Titelsong,

mit „Mercy mercy me“und „Inner City Blues“drei Hitsingles.

Gaye nutzt auf dem Album keinen scharf-ironisch klagenden Ton wie Protestsän­ger es schon vor seiner Zeit taten oder schreit seine Wut über die herrschend­en Zustände nicht heraus, wie Jahre später Rage against the Machine. Er wählte zwar musikalisc­h einen neuen Ansatz, in dem er den federleich­ten Motown-standard mit Jazz, Blues und symphonisc­hen Elementen aufbricht. In der Ansprache mit dezentem Tonfall aber bleibt er seinem Ansatz treu.

Die Songs schmeichel­n sich mit unwiderste­hlichen Grooves in die Gehörgänge und pflanzen ihre kritischen Botschafte­n fast schon beiläufig ins Unterbewus­stsein. Ein Verführer bleibt Gaye auch mit diesem Album. Oder anders gesagt: Bisher brachte seine Musik Menschen zum Engtanz und zwischen die Laken, nun regt er sie zum Nachdenken an.

Damit Sie nicht den Krisen-blues bekommen, stellen wir vergessene, verkannte oder einst viel gehörte Alben vor. Alle Folgen und die Playlist auf

tlz.de/blog.

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