Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
„Du gehst nach Hause und fühlst dich schuldig“
Der Alltag auf Krankenstationen in Zeiten von Corona belastet Pflegeschüler schwer
„Wenn das, was momentan stattfindet, Pflege genannt wird, will ich nicht in der Pflege arbeiten.“Der Satz stammt aus dem Brief einer jungen Frau an die Redaktion. Aus jeder Zeile spricht Enttäuschung. 19 Jahre ist sie, im zweiten Ausbildungsjahr zur Gesundheitsund Krankenpflegerin. Also noch nicht einmal richtig im Beruf. Was ist da passiert?
Lisa T*, sie bittet um Anonymität, ist bereit, das zu erklären. Denn es geht nicht nur um sie. Es geht um den Anspruch des Pflegeberufs und die Grenzen, die der Personalmangel ihm setzt. So jedenfalls erlebt sie es. Vor der Ausbildung hat sie in der geriatrischen Abteilung eines Krankenhauses ein freiwilliges soziales Jahr gemacht. Um sich in ihrer Entscheidung sicher zu sein. Die erste Zeit war hart. Hinfälligkeit, Angst, Krankheit, Sterben: Das zu erleben, war schwer auszuhalten. Es änderte sich, als sie begann, die andere Seite wahrzunehmen. Wie viel man Menschen mit Zuwendung geben kann, und wie erfüllend das ist.
Sie erzählt das, um klar zu machen, dass sie nicht unüberlegt in diesen Beruf geschlittert ist. Sie hat sich diese Entscheidung hart erarbeitet. Im Herbst 2019 begann sie ihre Ausbildung. Blockunterricht im Wechsel mit der Praxis auf Klinikstationen und in Pflegeheimen. Sie freute sich darauf.
Für die Versorgung bleibt gerade noch die nötigste Zeit
Dann kam Corona. Seitdem erlebt sie, wie Kollegen über ihre Grenzen gehen müssen. Weil durch Quarantäne und Krankheit die Lücken immer größer werden, weil die Anforderungen steigen, die Zeit für den einzelnen Menschen auf das Nötigste schrumpft. Dreißig Patienten, drei Pflegekräfte, zwei Schüler: Dreißig Minuten morgendliche Grundpflege wären optimal, aber dann wäre man erst am Nachmittag fertig. Du hörst, sagt sie, immer die Uhr ticken.
Eine Patientin mit einem Oberschenkelhalsbruch, die mit etwas Hilfe eigentlich schon selber duschen könnte und es auch sollte, um wieder selbstständig zu werden, lässt du im Bett und wäschst sie selber. Weil es schneller geht. Sie erzählt von einer Oberschwester, der beim Anblick des Belegungsplanes auf der Station die Tränen kamen.
Von Patienten, die reden wollen, denen man Ängste nehmen muss, aber es ist keine Zeit dafür … Du gehst nach Hause und fühlst dich schuldig. Nach einer Nachtschicht auf einer Corona-station schrieb sie den Brief an die Zeitung.
Die Pandemie ist eine Ausnahmesituation, das ist ihr schon klar. Aber den Fachkräftemangel gibt es ja nicht erst seit Corona. Warum, fragt sie, unternimmt die Politik nicht endlich etwas dagegen?
In der Theorie-ausbildung rennt ihr die Zeit davon. Seit Mitte Dezember findet der Unterricht am Bildschirm statt. Sie fürchtet, dass ihre Lücken immer größer werden. Es liegt, betont sie, nicht an den Ausbildern, die tun, was sie können. Kürzlich habe sie mit einer Lehrerin um neun Uhr abends online Anatomie besprochen. Aber das kann Präsenzunterricht nicht ersetzen.
Der Einzelfall einer enttäuschten Schülerin? Sabine Gentsch spricht von einer sehr fordernden Zeit für ihre Auszubildenden. Sie leitet die Pflegeschule am St.-georg-klinikum Eisenach. Die Konfrontation ihrer Vorstellungen von Pflege mit den Realitäten sei schon vor Corona für viele Auszubildende nicht einfach gewesen. Lücken in der Personaldecke, das bleibe für die Schüler während ihrer Praxisausbildung auf den Stationen nicht ohne Folgen.
Nicht nur, was das Arbeitspensum betrifft. Besonders belastend sei für die jungen Menschen, wenn sie die Einsamkeit schwer kranker und sterbender Patienten erleben. Sie wollen stark sein, sagt Sabine Gentsch, aber nicht alle sind es, um solche Erfahrungen zu verarbeiten. Und ja, es gebe auch Schüler, die mit innerem Rückzug reagieren. Man versuche aus der Ferne, den Kontakt
so eng wie möglich zu halten, um das aufzufangen.
Führt Corona zur beruflichen Desillusion? So pauschal will das die Schulleiterin nicht sagen. Als die Stadt vor Ostern quasi über Nacht ein Testzentrum eingerichtet hatte, übernahmen die Schüler mit viel Engagement den ersten Betrieb. Solche Erfahrungen motivieren natürlich. Auf der anderen Seite erlebten sie aber auch, wie kurzlebig öffentliche Wertschätzung sein kann. Vor einem Jahr wurden sie noch beklatscht, inzwischen spricht kaum noch jemand über die Situation auf den Stationen. Das ernüchtert. Hinzu kämen bei vielen die Befürchtungen, im Lernstoff Lücken zu haben, die Ängste seien zum Teil massiv. Auch wenn die Schule im digitalen Unterricht gut aufgestellt sei, ersetze das nicht den direkten Austausch. Und die Prüfungen sind zentral, Abstriche an den Anforderungen könne es in einem Beruf nicht geben, in dem es um die Gesundheit von Menschen geht.
Prüfungsängste angesichts der Lücken in der Ausbildungszeit Solche Verunsicherungen beobachtet man auch in der Erfurter Heliosklinik. Den Azubis fehle der Präsenzunterricht. Online fürchten viele, den Anschluss zu verlieren, erklärt die Leiterin des Bildungszentrums, Sylvia Wagner. Am Institut für pflegeberufliche Bildung in Gotha bewertet man die Situation der Abschlussklassen derzeit als schwierig. Man habe viele Umschüler mit Familie. Quarantäne und Kinderbetreuung haben Lücken geschlagen, sagt Schulleiterin Carolin Kuhl. Nein, von einem Motivationstief kann sie nicht sprechen. Aber wissend um die Belastungen, auch auf den Stationen, will man genauer wissen, wie es den Auszubildenden geht. Derzeit werden sie dazu in Interviews befragt.
Sie habe ihre Ideale vom Pflegeberuf ja nicht begraben, sagt Lisa T. Aber nach diesem Jahr ist sie nicht sicher, ob das ausreicht, um durch ein ganzes Berufsleben zu tragen. Sie denkt über ein Psychologiestudium nach, später irgendwann. Jetzt muss sie erst einmal die Abschlussprüfungen schaffen. Die sind im nächsten Jahr. Sie hat jetzt schon Angst, zu scheitern. Ein halbes Jahr Verlängerung, sagt sie, würde schon viel Druck abbauen.