Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Der Schatz im Silbersee
Rudern Der erfolgsverwöhnte Deutschland-achter wird Zweiter hinter Neuseeland
Tokio.
Ein Ruderrennen ist ein Kampf über 2000 Meter gegen die Schmerzen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem der noch funktionstüchtige Rest des Körpers die Macht über den Kopf übernimmt. „Wenn bei mir das Schwarze vor die Augen kommt“, sagt Hannes Ocik, Schlagmann des Deutschland-achters, „ist bei den anderen meist schon alles dunkel.“Bei Laurits Follert kommt dieser Moment am Freitagmorgen 750 Meter vor dem Ziel: „Da gingen alle Lichter aus“, sagt er. Arme und Beine brennen, das Herz pocht beinahe bis zum Vordermann – weiter geht das Rennen nur noch im Unterbewusstsein.
Im Ziel lässt sich Torben Johannesen nach hinten auf die Beine von Olaf Roggensack fallen. An Land taumelt Jakob Schneider fast orientierungslos über den Bootssteg, auf dem Malte Jakschik als Erstem die Sinne zurückkommen: Er geht das 17,50 Meter lange Boot ab und umarmt jeden seiner Kollegen. Sagen kann er nichts, so sehr hat sich der 27-Jährige in den vergangenen 5:25,60 Minuten verausgabt. Aber in Jakschiks Augen steht geschrieben: Jungs, wir haben das Rennen gewonnen, wir haben die Medaille.
Der kleine Schönheitsfehler: Der Achter, eine der Hauptattraktionen des deutschen Sports, hat nicht das Rennen um Gold, sondern um Silber gewonnen. Der Sieg ist den starken Neuseeländern nicht zu nehmen – sie siegen mit 0,96 Sekunden oder fünf Metern Vorsprung. Großbritannien holt Bronze.
Man hätte fast von einem Heimvorteil für den Deutschland-achter – zu Hause auf dem Dortmundems-kanal
– sprechen können. Die Strecke am Sea Forest Waterway in der Bucht von Tokio liegt in einem Industriegebiet. Als der Startschuss fällt, setzen nebenan Kräne Container aufeinander. Auch das Wetter kann ruhrpottlerischer kaum sein: Im Grau des Himmels gehen von der Spitze des 332 Meter hohen Tokio Skytrees Wolken ab, als würde es aus einem Schlot rauchen.
Silber gewonnen und nicht Gold verloren – so hieß der Tenor. Und doch endeten nun erstmals seit 2008 die olympischen Ruderwettbewerbe ohne einen Sieg des erfolgsverwöhnten deutschen Verbandes. Der Achter wird sich neu aufstellen, auch manche seiner Silber-fahrer orientieren sich neu. Hannes Ocik überlegt, sich in der Sportpolitik einzubringen. „Die gesellschaftliche Anerkennung des Leistungssports geht in Deutschland immer weiter flöten“, sagt der 30-Jährige, „ich habe ein großes Interesse, meine Stimme zu nutzen.“