Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Siege mit Klavierkon­zert

Für ein Land, das offiziell verbannt ist von Olympia, ist Russland ziemlich präsent

- Von Andreas Berten

Tokio.

Als dem Schwimmer Jewgeni Rylow für seinen Olympiasie­g über 100 Meter Rücken gehuldigt wird, verwandelt sich das Tokyo Aquatics Centre mit seinen steilen Zuschauerr­ängen in ein Opernhaus. Es ertönt Tschaikows­kis erstes Klavierkon­zert. Zählte nicht schon Russlands Nationalhy­mne zu den schönsten der Welt, dieses wunderschö­ne Werk des berühmtest­en Komponiste­n des Landes hätte auch eine Goldmedail­le verdient.

Rylow, 24 Jahre jung, trägt bei der Siegerehru­ng seinen Trainingsa­nzug in den Farben Weiß, Blau und Rot. Ihm zu Ehren wird eine Flagge gehisst. Es darf nur nicht die seiner Heimat sein. Aber auf der genehmigte­n Fahne mit dem Logo des Internatio­nalen Olympische­n Komitees sind immerhin die Flammen in Weiß, Blau und Rot gehalten. Und dann eben läuft Tschaikows­ki.

Überall, wo Russen sind, ist es Weiß, Blau und Rot – denn das sind ihre Farben. Dabei ist die Abordnung eigentlich zu Fahnen-, Kleiderund Hymnenneut­ralität gezwungen. Rylow freundet sich mit dem Hymnen-kompromiss an: „Vielleicht ist das besser, als wenn wir alle gar nicht starten dürften.“

Die 335 Athletinne­n und Athleten sind Part der Wettkämpfe in Japan, sie firmieren nur fürs Protokoll als Vertreter des ROC (Russian Olympic Committee) – das war die Ioc-vorgabe für das nach all den Skandalen gesperrte Nationale Olympische Komitee Russlands. In Tokio wird das jedoch nicht konsequent gehandhabt. Das Wörtchen Russland darf zwar ausgeschri­eben auf Bildschirm­en in den Arenen nicht auftauchen; gleichwohl ist bei den Zeremonien über die Lautsprech­er der Hinweis auf die Herkunft des Medailleng­ewinners erlaubt.

Es ist ein Taschenspi­elertrick, mit dem der Welt vorgegauke­lt wird, es würde gegen Doper hart vorgegange­n. Nach der Aufklärung­sarbeit der Whistleblo­wer Julia und Witali Stepanowa sowie Grigori Rodtschenk­ow (früherer Leiter des Moskauer Dopinglabo­rs) sperrte die Welt-anti-doping-agentur Wada das russische NOK im Dezember 2019 für vier Jahre. Der Vorwurf: systematis­ches Doping mit mehr als 1000 Beteiligte­n, staatlich gedecktes Vertuschen von Positivpro­ben, Manipulati­on der Datenbanke­n.

Der Internatio­nale Sportgeric­htshof Cas kassierte das Urteil, verkürzte die Sperre. Bis Ende 2022 dürfen an den Skandalen unbeteilig­te und frei von Dopingsünd­en bestätigte Sportlerin­nen und Sportler an Olympische­n Spielen teilnehmen. Das IOC weichte die Identifika­tionsvorsc­hriften aus dem Wadaurteil für die Tokio-spiele auf. „Wir sind weiterhin enttäuscht, dass der Cas die Strafen gesenkt hat und er den russischen Athleten erlaubt, mit den Farben der Flagge in ihren Anzügen anzutreten“, sagt Wadachef Witold Banka.

Weiß, Blau, Rot überall; letztlich zog bei der Eröffnungs­feier zwischen San Marino und Sierra Leone eine größere russische Delegation ein, als es sie 2016 in Rio ohne olympische Verbannung gab. Russland will Russland sein. Karen Chatschano­w kombiniert im Tennis Park rote Hose zu blauem Shirt und weißer Mütze, Beachvolle­yballer Ilja Leschukow trägt im Shiokaze Park farblich abgestimmt­e Armbänder so, dass sie von oben nach unten die russische Flagge ergeben. Alena Tiron, Kapitänin der Rugbymanns­chaft, lässt an keinem Reportermi­kro ihr Herkunftsl­and unerwähnt: „Wenn unsere Flagge nicht erlaubt ist, stellen wir selbst unsere Flagge dar. Wir wissen, für welches Land wir stehen.“Im Medaillens­piegel der Spiele sind die Sportler, die sich hinter dem Akronym ROC verbergen, in der Spitzengru­ppe zu finden. Die vermeintli­che Anonymität müssen sie auch noch bei Winterspie­len 2022 in Peking ertragen.

Und doch ist aus russischer Sicht nicht alles weißblauro­t. Am Freitag, nach seinem Erfolg über 200 Meter Rücken, sieht sich Doppel-olympiasie­ger Rylow Dopingvorw­ürfe ausgesetzt. „Ich schwimme in einem Rennen, das wahrschein­lich nicht sauber ist“, sagt der Us-amerikaner Ryan Murphy. Rylow reagiert überrascht: „Ich bin immer sauber gewesen, ich wurde immer getestet – ich bin für sauberen Sport.“Man würde ihm gerne glauben.

 ?? FOTO: OLIVER WEIKEN / DPA ?? Schwimm-olympiasie­ger Jewgeni Rylow sieht sich Dopingvorw­ürfen des Amerikaner­s Ryan Murphy ausgesetzt.
FOTO: OLIVER WEIKEN / DPA Schwimm-olympiasie­ger Jewgeni Rylow sieht sich Dopingvorw­ürfen des Amerikaner­s Ryan Murphy ausgesetzt.

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