Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Siege mit Klavierkonzert
Für ein Land, das offiziell verbannt ist von Olympia, ist Russland ziemlich präsent
Tokio.
Als dem Schwimmer Jewgeni Rylow für seinen Olympiasieg über 100 Meter Rücken gehuldigt wird, verwandelt sich das Tokyo Aquatics Centre mit seinen steilen Zuschauerrängen in ein Opernhaus. Es ertönt Tschaikowskis erstes Klavierkonzert. Zählte nicht schon Russlands Nationalhymne zu den schönsten der Welt, dieses wunderschöne Werk des berühmtesten Komponisten des Landes hätte auch eine Goldmedaille verdient.
Rylow, 24 Jahre jung, trägt bei der Siegerehrung seinen Trainingsanzug in den Farben Weiß, Blau und Rot. Ihm zu Ehren wird eine Flagge gehisst. Es darf nur nicht die seiner Heimat sein. Aber auf der genehmigten Fahne mit dem Logo des Internationalen Olympischen Komitees sind immerhin die Flammen in Weiß, Blau und Rot gehalten. Und dann eben läuft Tschaikowski.
Überall, wo Russen sind, ist es Weiß, Blau und Rot – denn das sind ihre Farben. Dabei ist die Abordnung eigentlich zu Fahnen-, Kleiderund Hymnenneutralität gezwungen. Rylow freundet sich mit dem Hymnen-kompromiss an: „Vielleicht ist das besser, als wenn wir alle gar nicht starten dürften.“
Die 335 Athletinnen und Athleten sind Part der Wettkämpfe in Japan, sie firmieren nur fürs Protokoll als Vertreter des ROC (Russian Olympic Committee) – das war die Ioc-vorgabe für das nach all den Skandalen gesperrte Nationale Olympische Komitee Russlands. In Tokio wird das jedoch nicht konsequent gehandhabt. Das Wörtchen Russland darf zwar ausgeschrieben auf Bildschirmen in den Arenen nicht auftauchen; gleichwohl ist bei den Zeremonien über die Lautsprecher der Hinweis auf die Herkunft des Medaillengewinners erlaubt.
Es ist ein Taschenspielertrick, mit dem der Welt vorgegaukelt wird, es würde gegen Doper hart vorgegangen. Nach der Aufklärungsarbeit der Whistleblower Julia und Witali Stepanowa sowie Grigori Rodtschenkow (früherer Leiter des Moskauer Dopinglabors) sperrte die Welt-anti-doping-agentur Wada das russische NOK im Dezember 2019 für vier Jahre. Der Vorwurf: systematisches Doping mit mehr als 1000 Beteiligten, staatlich gedecktes Vertuschen von Positivproben, Manipulation der Datenbanken.
Der Internationale Sportgerichtshof Cas kassierte das Urteil, verkürzte die Sperre. Bis Ende 2022 dürfen an den Skandalen unbeteiligte und frei von Dopingsünden bestätigte Sportlerinnen und Sportler an Olympischen Spielen teilnehmen. Das IOC weichte die Identifikationsvorschriften aus dem Wadaurteil für die Tokio-spiele auf. „Wir sind weiterhin enttäuscht, dass der Cas die Strafen gesenkt hat und er den russischen Athleten erlaubt, mit den Farben der Flagge in ihren Anzügen anzutreten“, sagt Wadachef Witold Banka.
Weiß, Blau, Rot überall; letztlich zog bei der Eröffnungsfeier zwischen San Marino und Sierra Leone eine größere russische Delegation ein, als es sie 2016 in Rio ohne olympische Verbannung gab. Russland will Russland sein. Karen Chatschanow kombiniert im Tennis Park rote Hose zu blauem Shirt und weißer Mütze, Beachvolleyballer Ilja Leschukow trägt im Shiokaze Park farblich abgestimmte Armbänder so, dass sie von oben nach unten die russische Flagge ergeben. Alena Tiron, Kapitänin der Rugbymannschaft, lässt an keinem Reportermikro ihr Herkunftsland unerwähnt: „Wenn unsere Flagge nicht erlaubt ist, stellen wir selbst unsere Flagge dar. Wir wissen, für welches Land wir stehen.“Im Medaillenspiegel der Spiele sind die Sportler, die sich hinter dem Akronym ROC verbergen, in der Spitzengruppe zu finden. Die vermeintliche Anonymität müssen sie auch noch bei Winterspielen 2022 in Peking ertragen.
Und doch ist aus russischer Sicht nicht alles weißblaurot. Am Freitag, nach seinem Erfolg über 200 Meter Rücken, sieht sich Doppel-olympiasieger Rylow Dopingvorwürfe ausgesetzt. „Ich schwimme in einem Rennen, das wahrscheinlich nicht sauber ist“, sagt der Us-amerikaner Ryan Murphy. Rylow reagiert überrascht: „Ich bin immer sauber gewesen, ich wurde immer getestet – ich bin für sauberen Sport.“Man würde ihm gerne glauben.