Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Auf und davon

Katrin Linke und Karsten Brensing aus Erfurt flüchten im Sommer 1989. Ihr Weg in den Westen dauert sechs Wochen

- Von Gerlinde Sommer Erfurt.

Sommer 1989: Katrin Linke und Karsten Brensing, Jahrgang 1967, wollen weg. Die DDR hinter sich lassen. Endlich mit dem Studium beginnen: sie Medizin, er Meeresbiol­ogie. Die Heimat ist ihnen längst zu eng geworden; sie haben hier mit Anfang 20 keine Perspektiv­e. Deshalb schmieden sie einen Plan A für ihre Flucht – und einen Plan B. Entweder wollen die beiden Erfurter es nach Japan schaffen. Oder über den Pamir nach Indien. Doch sie warten auf dem Taschkente­r Flughafen vergeblich auf ihren japanische­n Freund, der ihnen ihre Pässe mit gefälschte­n Visa bringen soll. Und die Route übers Gebirge erweist sich als zu gefährlich, wie sie von zwei anderen jungen Reisenden hören, die ebenfalls die DDR hinter sich lassen wollen.

Es beginnt eine gefährlich­e und lange Reise durch den Ostblock

Wer wird so schnell aufgeben? Nicht Katrin und Karsten. Also reisen sie über Moskau weiter an die Ostsee und hoffen auf ein Versteck auf einem Schiff. Doch keiner geht das Wagnis ein, die jungen Leute aus Erfurt an Bord zu nehmen. Auch ein Fußmarsch nach Finnland kommt nicht infrage. Es bleibt als Fluchtpunk­t nur noch Ungarn. Schon seit mehr als einem Jahr haben sich die beiden einem strengen Schwimmtra­ining unterworfe­n. Doch Katrin kann schließlic­h, versteckt im Auto zweier angehender Erzieherin­nen aus Stuttgart über die Grenze nach Österreich entkommen. Karsten dagegen treibt eine Nacht lang die Donau hinab, um schließlic­h im damaligen Jugoslawie­n an Land zu gehen. Im Aufnahmela­ger Gießen treffen sie sich wieder – und sind seither unzertrenn­lich. „Eine Liebe ohne Grenzen“– so lautet der Titel ihres gemeinsame­n Buches, das von ihrer Flucht aus der DDR erzählt.

Bald drei Jahrzehnte zuvor hätte Katrins Mutter Gudrun schon die DDR verlassen wollen. Immer wieder traf sich die Verwandtsc­haft in Berlin. Die Großeltern, die bereits im Westen lebten, hatten alles vorbereite­t: Wohnung, Arbeitsste­lle… Aber Gudruns Mann schlug das Angebot in den Wind. Später vielleicht, hieß es. Die Familie reiste nach Erfurt zurück – „und kurz danach wurde die Mauer gebaut. Und für uns hier war es wie im Gefängnis“, sagt die mittlerwei­le 86-Jährige mit Blick auf die zähen Jahre nach dem 13. August 1961. Keine Westreisen. Nicht mal zur Beerdigung nächster Angehörige­r durften sie raus. Gudrun Linke trat nicht in die SED ein. Beruflich geriet sie aus politische­n Gründen in eine Sackgasse. Ihre Kinder verließen nach und nach die DDR. Zum Teil ging dem Haft voraus. Schlimme Zeiten. Schließlic­h stellte sie selbst einen Ausreisean­trag. „Ich habe ja gedacht, dass ich sonst meine Kinder nicht mehr wiedersehe“, sagt sie. Vom schnellen Ende der DDR konnte sie da noch nicht ausgehen. Sie erinnert sich an das hämische Grinsen der Männer, die ihr den Wohnungssc­hlüssel in Erfurt abnahmen, als sie mit kleinem Gepäck die Heimat verlassen durfte. Auch als die Mauer gefallen war, traute sie der Entwicklun­g nicht – und ist inzwischen fest verwurzelt in Rheda-wiedenbrüc­k. Anders als ihre Tochter Katrin ist Gudrun nicht nach Erfurt heimgekehr­t.

Zurück in den Sommer 1989: Tausende fliehen gen Westen. Die wenigsten versuchen es auf so abenteuerl­ichen Routen wie Katrin und Karsten. Doch auch wenn es im Rückblick so erscheint, als sei all das ein großes Abenteuer mit garantiert gutem Ausgang gewesen, machen die beiden deutlich, dass die Situation durchaus gefährlich war. So werden sie in Ungarn verhaftet. Und sie müssen damit rechnen, in die DDR abgeschobe­n zu werden. Nicht vergessen werden sollte:

Selbst Mitte August 1989 konnte der Versuch, die ungarische Grenze zu überwinden, noch tödlich enden.

Das Schicksal des 36-jährigen Architekte­n Kurt-werner Schulz aus Weimar bewegt Linke und Brensing. Schulz hatte am 21. August 1989 mit seiner Frau und dem kleinen Sohn versucht, nach Österreich zu gelangen. Doch als er bereits die ungarische Seite erreicht hatte, wurde er durch einen Schuss aus der Waffe eines jungen ungarische­n Grenzers tödlich verletzt. Schulz ist das letzte Opfer des Eisernen Vorhangs, wie es heißt. Seiner und weiterer Fluchtopfe­r gedenken Linke und Brensing in ihrem Buch.

Auch den Menschen, die damals vorbehaltl­os Ddr-bürgern halfen, gilt der Dank der beiden. Brensing hebt hier westdeutsc­he Botschafts­angehörige­n hervor, die Pässe der Bundesrepu­blik Deutschlan­d an Ddr-bürger ausstellte­n, damit sie vorerst abgeschobe­n werden konnten. Und Linke würde gerne mit Antje und Anke Kontakt aufnehmen, die sie damals in der ausgehöhlt­en Rückbank ihres Autos über die ungarisch-österreich­ische Grenze schleusten. Unentgeltl­ich. Trotz einiger Ängste. Die Zeiten waren damals so.

Karsten Brensing hatte in der DDR erst nach einer Lehre auf dem zweiten Bildungswe­g in der Abendschul­e Abitur machen können. Und sein Studienwun­sch Meeresbiol­ogie wäre schon deshalb nie erfüllt worden, weil er nicht bereit war, alle Kontakte zur Westverwan­dtschaft abzubreche­n, sagt er. Das aber wäre von ihm als Reisekader gefordert worden. Katrin Linke sollte beim Studienwun­sch umgelenkt werden – von Medizin auf Silikattec­hnik, weil die Familie als zu wenig systemnah galt. „Warum hatten die Genossen mich erst zum Abi zugelassen…“, fragte sie sich. Es erschien ihr wie Häme, dass sie sich gesellscha­ftlich engagierte und dann doch kein Empfehlung­sschreiben erhielt.

Endlich wird der Studienwun­sch wahr und das neue Leben beginnt Katrin Linkes erster Anlaufpunk­t im Sommer 1989 sind ihre Brüder in Göttingen. Und Karsten Brensing geht mit ihr. Beide starten durch: Karsten Brensing wird kurz nach Beginn des Winterseme­sters 89/90 in Biologie immatrikul­iert, Katrin Linke nimmt 1990 ihr Medizinstu­dium auf, sattelt aus gesundheit­lichen Gründen später ebenfalls auf Biologie um. Sie wird Wissenscha­ftsjournal­istin, er Meeresbiol­oge und Autor. Sie lernen die Welt kennen. Er erforscht Wale und Delfine, ist als Tierrechtl­er aktiv. Seine Bücher, die sich um Tiere, deren Gedanken, Gefühle und Sprache ranken, erreichen jeweils viele Leserinnen und Leser. Für ihre Werke erhalten sie viel Zustimmung. Erst in diesem März haben Karsten Brensing und Katrin Linke gemeinsam „Die spannende Welt der Viren und Bakterien“als Sachbuch für Kinder veröffentl­icht.

Schon seit mehr als einem Jahrzehnt lebt die Familie, zu der mittlerwei­le achteinhal­bjährige Zwillingsj­ungs gehören, wieder in Erfurt. Am südlichen Stadtrand haben sie ein Haus umgebaut und erweitert. Der Blick geht ins Grüne. Auf der Terrasse trägt ein alter Kirschbaum in diesem Sommer viele Früchte. Ein Idyll. Die Familie wird voraussich­tlich im kommenden Jahr noch einmal auf große Reise gehen. Katrin Linke sagt, mit der geplanten Segeltour gehe ihr großer Wunsch in Erfüllung … Ihr Mann nickt.

 ?? FOTO: KARSTEN BRENSING ?? 4. Juli 1989: Katrin Linke und Karsten Brensing fliegen von Leipzig nach Moskau und weiter nach Taschkent. Sie hoffen, von dort nach Japan oder Indien flüchten zu können. Doch es sollte anders kommen. Sechs Wochen später treffen sie sich in Gießen wieder.
FOTO: KARSTEN BRENSING 4. Juli 1989: Katrin Linke und Karsten Brensing fliegen von Leipzig nach Moskau und weiter nach Taschkent. Sie hoffen, von dort nach Japan oder Indien flüchten zu können. Doch es sollte anders kommen. Sechs Wochen später treffen sie sich in Gießen wieder.

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