Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Zwischen Cappuccino und Taliban
Kaffee trinken, Freunde treffen: Junge Afghanen sehnen sich nach dem westlichen Lebensgefühl. Das finden sie im Coffeeshop Slice. Den Islamisten gefällt das gar nicht
Vor wenigen Jahren konnte fast kein Taxifahrer in Kabul etwas mit dem Begriff „Slice“anfangen. Als Adresse taugte der Name des neumodischen Cafés damals noch nicht. Mittlerweile hat sich dies geändert. Die Slice-filialen in den Stadtteilen Shar-e Naw oder Pol-e Surkh sind nicht mehr wegzudenken – und hier herrscht stets reges Treiben. In Afghanistan, einem Land von Teetrinkern, hat sich die Coffeeshop-kultur durchgesetzt. Neben dem Slice lassen sich mittlerweile mehrere westlich anmutende Cafés finden, in denen alle möglichen Getränke samt Brownies, Doughnuts oder afghanischem Traditionsgebäck serviert werden.
Optisch unterscheiden sich die Cafés kaum von ihren Pendants in Europa oder Nordamerika. Die Innenausstattung wirkt oft modern und stylish. Wer sich dort aufhält, könnte fast meinen, dass er überall gelandet sei – nur nicht in einem Entwicklungsland, in dem seit über vierzig Jahren Krieg herrscht.
„Mittlerweile versuchen auch die Taliban, die Jugend anzulocken.“Fazelminallah Qazizai, afghanischer Journalist, über neue Freiheiten auch in der Provinz
Die Cafés werden vor allem von jungen Leuten besucht, um Freunde zu treffen, über Politik und Kultur zu diskutieren oder zu lernen. Auffällig ist in den Lokalen auch der Umstand, dass es meist keine Geschlechtertrennung gibt, wie sie ansonsten in Afghanistan vielerorts üblich ist. Nicht selten erscheinen im Slice und anderswo auch (unverheiratete) Pärchen. Rauchende Frauen sind nichts Ungewöhnliches. Nicht jedem gefällt das. „Ein Freund von mir meinte einmal, dass dieser Ort besonders ‚schlimm‘ sei, als er mich im Slice sah“, sagt Mustafa Akbari, Mitte 30. Sein Büro liegt in der Nähe des Cafés, wo er sich manchmal einen Latte macchiato gönnt. Der besagte Freund meinte, dass die afghanische Jugend „verrotten“würde.
Derartige Ansichten haben dazu geführt, dass einige der neuen Kabuler Etablissements regelmäßig bedroht werden. Auch das Slice wird von einem bewaffneten Sicherheitsmann bewacht. Ob dieser im Ernstfall – etwa wenn Terroristen das Café stürmen – etwas ausrichten kann, ist fragwürdig.
Seit vergangenem Mai haben die radikalislamistischen Taliban mehr als einhundert Distrikte im ganzen Land erobert. Immer mehr Beobachter fürchten, dass auch Großstädte wie Kabul in naher Zukunft fallen und errungene Freiheiten von den Taliban abermals unterdrückt werden könnten. Die urbane Kaffeehauskultur könnte zu den ersten Zielen der Extremisten werden.
Mittlerweile lassen sich Imitate der Kabuler Coffeeshops allerdings auch in Taliban-gebieten finden. Als der afghanische Journalist Fazelminallah Qazizai vor wenigen Monaten die südliche Provinz Helmand besuchte, die weitgehend von den Taliban kontrolliert wird, fand er überraschenderweise ein Café vor, in dem Cappuccino, Softdrinks und Wasserpfeifen angeboten wurden. „Früher hätte es das nicht gegeben, doch mittlerweile versuchen auch die Taliban, die Jugend anzulocken. In manchen Gebieten gestatten sie dann derartige ‚Freiheiten‘“, erzählt Qazizai.
Präsident Ghani besuchte mit seiner Frau ein angesagtes Steakhouse
Dass die Taliban ihre Ideologie in der Hauptstadt nicht in absehbarer Zukunft durchsetzen können, will in diesen Tagen auch Afghanistans Präsident Ashraf Ghani verdeutlichen. Er besuchte jüngst mit seiner Ehefrau ein neues Steakrestaurant. Bilder und Videos des Besuchs wurden seitens des Präsidentenpalasts in verschiedenen Social-media-kanälen geteilt. Auch bei jenem Lokal handelt es sich um einen Hotspot, der vor allem von jungen Afghanen besucht wird und für den etwa über Instagram geworben wird. Ghani wollte durch seinen Pr-stunt auch zeigen, dass die Kabuler Innenstadt derart sicher ist, dass selbst der Präsident höchstpersönlich – natürlich mit Sicherheitspersonal – dort spazieren und dinieren kann.
An der Aktion gibt es auch Kritik: „Die allermeisten Afghanen leben in Armut und können sich dort kein feines Steak leisten“, hieß es auf Facebook. Ähnlich verhält es sich auch mit der Kabuler Kaffeehauskultur. Sie wirkt schön und fortschrittlich, doch das Klientel gehört zumeist den oberen drei Prozent der Gesellschaft an. Ein Cappuccino, der 100 Afghani – etwas mehr als einen Euro – kostet, ist für viele Afghanen ein Luxusgut. Mit demselben Betrag kann man etwa zehn Laib Brot kaufen.
„Ich mag die Cafés, doch ich bin hier nur selten, etwa zu besonderen Anlässen. Es ist einfach viel zu teuer“, sagt etwa Bezhan Karimi, ein Student aus Kabul, während er an seinem Kaffee nippt. Er arbeitet nebenher in einer Fabrik. Sein monatlicher Lohn: Rund 130 Euro. Als er das Slice verlässt, laufen ihm bettelnde Kinder entgegen, die sich meist vor den teuren Restaurants und Cafés aufhalten.