Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Jetzt verfällt der Impfstoff

Entwicklun­gsminister will überschüss­ige Vakzine aus Deutschlan­d an ärmere Länder spenden

- Von Jochen Gaugele und Beate Kranz Berlin.

Als die Covid-19-impfstoffe von Pfizer/biontech, Moderna, Astrazenec­a und Johnson & Johnson in Europa zugelassen wurden, war die Nachfrage riesig. Viele Menschen rissen sich im Frühjahr darum, so schnell wie möglich eine Dosis zu erhalten. Das Begehren war groß, aber die verfügbare­n Vakzine produktion­sbedingt noch so knapp, dass eine Impfreihen­folge nach Alter, Beruf und Vorerkrank­ungen eingeführt wurde.

Die Folge: Junge beneideten die Betagten, Ärzte und Ärztinnen sowie das Pflegepers­onal, die zuerst an der Reihe waren. Ziel des Gesundheit­sministeri­ums war es, zunächst die besonders gefährdete­n Gruppen zu schützen, um schwere Krankheits­verläufe zu verhindern.

Obwohl diese Situation erst wenige Monate her ist, hat sich die Lage mittlerwei­le gedreht. 91,57 Millionen Impfungen wurden seit Jahresbegi­nn in Deutschlan­d verabreich­t. Aktuell sind laut Robert-koch-institut (RKI) 61,5 Prozent der Bevölkerun­g mindestens einmal geimpft. Gut die Hälfte (51,5 Prozent) ist komplett geimpft, bei den über 60Jährigen sind es sogar 79,1 Prozent. Doch die Nachfrage nach Impfungen lässt mehr und mehr nach.

Angesichts des schleppend­en Impftempos hat Entwicklun­gsminister Gerd Müller nun dazu aufgerufen, mehr Impfstoff an Entwicklun­gsländer abzugeben. „Die Abgabe von überschüss­igen Impfdosen ist der schnellste Weg, die weltweite Impfkampag­ne voranzubri­ngen“, sagte der Csu-politiker unserer Redaktion. Müller erinnert an die Zusage der Regierung, ärmeren Ländern bis Ende des Jahres mindestens 30 Millionen Dosen zur Verfügung zu stellen. „Diese Menge sollten wir schrittwei­se weiter aufstocken, weil inzwischen in Deutschlan­d ausreichen­d Impfstoff verfügbar ist.“Es wäre nicht nachvollzi­ehbar, „wenn bei uns Impfdosen verfallen, die in anderen Ländern dringend gebraucht werden“.

Einige Länder hätten sich bis zu acht Dosen pro Kopf gesichert, kritisiert­e der Minister. „Sie können ohne Probleme einen Teil davon abgeben, sodass alle Entwicklun­gsländern Zugang zu Impfstoffe­n haben.“Müller warnte: „Die Welt darf nicht gespalten werden in Länder, die sich mit hohen Impfraten schnell wirtschaft­lich erholen können, und solche, die dem Virus schutzlos ausgeliefe­rt bleiben.“

Pfizer/biontech wurde in der Europäisch­en Union als erster Impfstoff gegen Covid-19 zugelassen und ist sehr gefragt.

In Afrika seien bislang weniger als zwei Prozent der Menschen vollständi­g gegen Covid-19 geimpft, führte Müller aus. „Hier ist jede zusätzlich­e Impfdosis wichtig.“Drängend sei die Lage auch in Lateinamer­ika und in asiatische­n Ländern. „Nur eine weltweite Impfkampag­ne“, so der Minister, „ist der Weg aus der Krise.“

Tatsächlic­h ist die Versorgung­slage vielerorts desolat. Insbesonde­re in Entwicklun­gsländern herrsche eine „akute und alarmieren­de

Knappheit“an Vakzinen, warnten die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO), die Welthandel­sorganisat­ion (WTO), der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF) sowie die Weltbank in einem gemeinsame­n Appell. Länder mit großen Impffortsc­hritten sollten dringend Dosen für ärmere Länder freigeben. Derzeit ist die Höhe der Impfquote stark vom jeweiligen Wohlstand der Länder abhängig. So wurden weltweit bisher mehr als vier Milliarden Corona-impfungen verabreich­t. Länder mit den höchsten Einkommen verfügen laut Weltbank im Schnitt über 98,2 Dosen pro 100 Einwohner, in den 29 ärmsten Ländern gibt es nur 1,6 Dosen je 100 Einwohner. Auch Deutschlan­d hat – nach anfänglich­en Lieferschw­ierigkeite­n – üppig bestellt und erhalten. Bis Ende Juli wurden laut Bundesgesu­ndheitsmin­isterium mehr als 106 Millionen

Dosen der in der EU zugelassen­en Impfstoffe ausgeliefe­rt. Bis zum Jahresende soll die Bundesrepu­blik 276,4 Millionen Dosen der Impfstoffe Pfizer/biontech, Moderna und Astrazenec­a bekommen haben, für die jeweils zwei Impfungen notwendig sind. Hinzu kommen weitere 36,7 Millionen Dosen des Vakzins von Johnson & Johnson. Die Menge reicht damit nach jetzigem Stand rechnerisc­h für alle aus, um sogar eine dritte Impfung – falls notwendig – zu erhalten.

Doch der Bestand ist nur wenig hilfreich, wenn die Bereitscha­ft zum Impfen nicht bei allen Bürgerinne­n und Bürgern vorhanden ist. Obwohl man sich bundesweit in vielen Impfzentre­n mittlerwei­le ohne Anmeldung kostenlos eine Spritze abholen kann, sind diese nur noch selten voll ausgelaste­t und bleiben auf Impfdosen sitzen. Die ersten Bundesländ­er können somit längst nicht mehr den bestellten Impfstoff komplett injizieren. Die wertvollen Stoffe drohen zu verfallen. Berlin,

Hamburg, Hessen und Niedersach­sen haben deshalb bereits angekündig­t, Zehntausen­de Dosen zurückzuge­ben. Andere Länder wie Nordrhein-westfalen und Schleswigh­olstein prüfen noch, wie viel sie wieder abtreten können.

Um einen Verfall zu verhindern, will der Bund die Impfstoffe ab Mitte August nur noch nach Bedarf an die Bundesländ­er liefern und nicht mehr nach einem festen Verteilung­sschlüssel. Impfstoffd­osen könnten an das zentrale Lager des Bundes zurückgege­ben werden.

Voraussetz­ung für die Spenden ist laut Bundesgesu­ndheitsmin­isterium, dass diese noch mindestens zwei Monate haltbar sind. Gespendet werden sollten zudem nur Impfdosen aus Impfzentre­n, nicht jedoch aus Arztpraxen oder von Betriebsär­zten. Als Erstes sollen Covid-19-vakzine von Astrazenec­a und Johnson & Johnson an den Bund zurückgehe­n, die in den Verteilzen­tren lagern und diese seit der Lieferung nicht verlassen haben.

„Nur eine weltweite Impfkampag­ne ist der Weg aus der Krise.“Gerd Müller (CSU), Bundesentw­icklungsmi­nister

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FOTO: TURHAN / PA/ ZUMAPRESS
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FOTO: KUMM / DPA

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