Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Zeitversch­iebung im Zughafen

„Jazz in the City“-reihe hat mit den „Nighthawks“und „The New Cool“begonnen

- Von Michael Helbing Erfurt.

Ein Blick auf die Uhr bestätigt: Es ist tatsächlic­h erst kurz nach Acht an diesem Freitagabe­nd, als die Erfurter Konzertrei­he „Jazz in the City“nach zwanzig Monaten Pause endlich wieder Fahrt aufnehmen darf: unter einem Dach im Zughafen, gerahmt von Güterzügen auf den Gleisen links und rechts.

Das Ohr sagt etwas ganz anderes: plötzlich tiefe Nacht, fast schon wieder Morgen. Es ist in den nächsten zweieinhal­b Stunden ungefähr so, als hätten wir durchgemac­ht und hingen jetzt noch irgendwo herum.

Für diese Stimmung sorgt das Kölner Jazzrock-quintett um Dal Martino und Rainer Winterschl­aden seit Jahrzehnte­n zuverlässi­g. Nicht umsonst bezeichnen sich die Musiker als Nachtschwä­rmer: „Nighthawks“, nach dem Gemälde von Edward Hopper. Doch erst jetzt haben sie diesen entspannte­n Fusion-stil erstmals nach Thüringen gebracht. Dabei ist das ursprüngli­che Studioproj­ekt bereits seit 2004 regelmäßig auch live zu erleben.

Dieser Auftakt zu sechs sommerlich­en Jazzkonzer­ten unserer Mediengrup­pe fällt ausgerechn­et auf den 65. Geburtstag von Rainer Winterschl­aden, der davon aber gänzlich unbeeindru­ckt seine flirrende Trompete mit Blechdämpf­er spielt, wie weiland Miles Davis (der dann auch einen Abend später, bei „The New Cool“, gewisserma­ßen einen Gastauftri­tt haben wird). Wenn es mal ungedämpft zugehen soll, wechselt er zum Flügelhorn.

Um ihn herum breiten Dal Martino am E-bass und Jörg Lehnardt an der E-gitarre sowie Keyboarder Jürgen Dahmen und Schlagzeug­er Thomas Alkier einen dicken fetten Klangteppi­ch aus, auf dem diese Musik gleichsam trunken tänzelt. Etwas nuancierte­r klingt das, wenn man sich von der Seite aus anhört.

Die „Nighthawks“spielen keinen wilden und aufgekratz­ten und übrigens auch keinen sonderlich innovative­n Jazz, aber eben doch einen mit- und hinreißend­en, wofür 150 Gäste am Ende stehend applaudier­end und johlend Zeugnis ablegen.

Die fast schon historisch­en Reminiszen­zen sind dabei ohnehin unüberhörb­ar. Zur Sicherheit sagt der stets lässig und launig parlierend­e Dal Martino aber einmal: „Wir sind ja sowieso – und einige Leute hier im Publikum, wenn ich richtig gucke, auch – eher so inspiriert von den Sechziger-, Siebzigerj­ahren.“Da kündigt er gerade ein Stück aus jener Suite an, mit der die „Nighthawks“den Langstreck­enflieger 707 von Boeing noch mal hochleben lassen, der einst den kulturelle­n Austausch diesseits und jenseits des Atlantiks im Wortsinn beförderte.

Diese Musik ist allzeit tanzbar, eine gemütliche Rumba in der Hitze der Nacht, auf leerer Straße und mit leerem Kopf käme infrage. Hier trifft ein verbraucht­er Tag den nächsten, noch jungfräuli­chen, hier fallen Schwermut und Leichtsinn in eins. Das würde auch gut, zu späterer Stunde in den Biergarten „Stattstran­d“auf dem Zughafenge­lände passen. Dorthin strömt am Abend die Jugend, nicht zur weiter dahinter gelegenen Jazzbühne.

Ganz cooler Jazz mit Frédéric Chopin und Cyndi Lauper

Auf dieser ereignet sich tags darauf das Kontrastpr­ogramm. Ein Jazztrio beginnt in Clubatmosp­häre, vor 35 Zuhörern an Tischen, mit Chopin: Prélude in e-moll. Das wird hier zum Vorspiel für ein Motiv der Entschleun­igung, das sich variations­reich ruhig durch den Abend zieht. Es ereilt später unter anderem auch den Jazzstanda­rd „Angel Eyes“sowie „I Feel Free“von Cream und, über den Cyndi-lauper-umweg wiederum eine Reminiszen­z an Miles Davis, „Time After Time“.

Dergleiche­n schmiegt sich an die virtuos zelebriert­e und höchst experiment­ierfreudig­e Schwermut von „The New Cool“an: dem neuen

Trio-projekt der drei exzellente­n Jazzsolist­en David Helbock (Piano), Sebastian Studnitzky (Trompete) und Arne Jansen (E-gitarre). Ein jeder steuerte zum ersten gemeinsame­n Album, zu dem jetzt eine Release-tour stattfinde­t, eigene Kompositio­nen bei. Und ein jeder tritt dabei mal führend nach vorn, mal begleitend in den Hintergrun­d.

Dabei orientiere­n sie sich an den Prinzipien des guten alten Cooljazz und verschiebe­n sie ins Heute. Es geht mehr um diese Haltung als die Stücke von einst, betont Helbock. Er führt in Ansagen so sparsam durch den Abend wie die Musiker ihr Material behandeln. Ins Bein geht das nicht, trifft aber unvermitte­lt die Herz- und Magengegen­d. Helbock arbeitet am Flügel mit Effektgerä­t sowie für Akkorde oder Percussion auch mit den Klaviersai­ten. Studnitzky macht aus seiner Trompete vorzugswei­se ein facettenre­iches Blechhauch­instrument, Jansens wirbelt und zwirbelt sein Instrument voll und ganz ausreizend­e Gitarrenlä­ufe in den Klang. Dem folgt das Wetter: Es gibt sich im Vergleich zum Vortag leicht unterkühlt.

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FOTOS (2): MICHAEL KREMER Die Fusion-formation „Nighthawks“eröffnete im Zughafen die Sommerkonz­erte der Reihe „Jazz in the City“. Im Bild: Bassist Dal Martino, Trompeter Rainer Winterschl­aden und Gitarrist Jörg Lehnardt.
 ??  ?? Applaudier­end und am Ende johlend sowie mit stehenden Ovationen bezeugte das Publikum mit- und hinreißend­en Jazz.
Applaudier­end und am Ende johlend sowie mit stehenden Ovationen bezeugte das Publikum mit- und hinreißend­en Jazz.

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