Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Dampflok rast allen davon
Americano-italiener Jacobs und Jamaikanerin Thompson holen 100-m-gold
Tokio.
Und dann ist der italienische Abend perfekt. Er kulminiert in einem hüpfenden Menschenknäuel, einem Wirrwarr aus Armen und Beinen und Freude. Ein italienischer Hochspringer, ein italienischer Sprinter, beide an diesem Sonntagabend in Tokio fulminant auf dem Olymp gelandet und nun vereint im Glück. Lamont Marcell Jacobs rannte erst allen davon, in 9,80 Sekunden über 100 Meter zum Olympiasieg und Europarekord – und dann gleich weiter in die Arme seines Landsmannes Gianmarco Tamberi, der kurz zuvor bei einem epischen Kräftemessen in luftigen Höhen auf 2,37 Meter gekommen war und gemeinsam mit Essa Mutaz Barshim (Katar) Gold geholt hatte.
Der Amerikaner Fred Kerley (9,84) und der Kanadier Andre de Grasse (9,89) konnten dem 26 Jahre alten Jacobs nicht folgen, sie mussten mit Silber und Bronze zufrieden sein. Hatte bei den vergangenen drei Spielen in Usain Bolt ein Sprinter vom Typ Gazelle dominiert, setzte sich jetzt das Modell Dampflok durch. Kompakt und unerbittlich schob sich der Italiener auf dem letzten Drittel der Strecke an Kerley vorbei. Seit dem Briten Linford Christie 1992 in Barcelona hat kein Europäer mehr olympisches 100-mgold geholt. Einem Italiener ist das überhaupt noch nie gelungen.
Die ersten Gedanken des gebürtigen Amerikaners, der als Kind nach Italien kam, in das Heimatland seiner Mutter, galten seiner Familie: „Ich danke meinen Kindern Anthony und Jeremy und meiner Mutter, die mein größter Fan ist.“
Eine Lichtshow war der Versuch der Veranstalter, auch bei diesen ersten Spielen der Nach-usain-boltära schon die Vorstellung der Sprint-stars zum Highlight zu machen. Bei den zurückliegenden drei Ausgaben in Peking, London und Rio hatte das der Weltrekordler mit ein paar lustigen Gesten ganz allein übernommen. Die Technik ist wahrlich beeindruckend. Aber irgendwann ging das Licht wieder an und beleuchtete strahlend hell die Tatsache, dass guter Sport die beste Technik
eben doch überragt. Dabei war Jacobs Goldlauf neben dem Weltrekord von Dreispringerin Yulimar Rojas aus Venezuela (15,67 m) und dem Hochsprungfinale mit sieben Athleten, die 2,33 m und höher flogen, gar nicht so herausragend.
Zum ersten Mal seit langem wurde das 100-m-finale der Männer auch von dem der Frauen ausgestochen. Sportlich, weil Siegerin Elaine Thompson-herah (10,61 s) so nah an die seit 33 Jahren gejagte, bewunderte und in ihrer Rechtmäßigkeit angezweifelte Zeit der verstorbenen Amerikanerin Florence Griffith-joyner herankam, wie noch keine Athletin vor ihr. Die 29-Jährige holte sich von der Weltrekordlerin den Olympischen Rekord und von ihrer Landsfrau Shelly-ann Fraserpryce, die in 10,74 s Zweite wurde, die Position der zweitschnellsten Frau der Geschichte. Dabei hatte Fraser-pryce diese erst im Juni mit 10,64 Sekunden erobert.
Und damit trumpften die Frauen dann auch emotional auf. Denn die schnellen Zwei aus Jamaika hatten sich am Abend zuvor demonstrativ so gar nicht lieb. Im Stadion würdigten sie sich nach der Entscheidung keines Blickes. Und später, bei der Pressekonferenz in den Katakomben der Arena, lag eine nahezu greifbare Antipathie in der Luft. Shericka Jackson (10,76), die den Jamaika-sweep als Dritte vervollständigt hatte, saß hilflos daneben.
Dann war da noch ein dritter Punkt, der die Männer ausstach: Das Doping-rumoren. Es gehört zum Kampf um die Sprintkrone dazu wie Sushi zu Japan. Die Sprinterinnen befeuern die Zweifel dieses Jahr besonders. Mit ihren 10,60-er Zeiten. Und mit einem prominenten Dopingfall: Blessing Okagbare aus Nigeria wurde am Samstag von der Athletics Integrity Unit, der Geheimpolizei des Weltverbandes, aus dem Wettbewerb genommen, weil sie positiv auf ein Wachstumshormon getestet worden war. Ihren Vorlauf hatte sie noch gewonnen.
An der guten Laune von Lamont Jacobs änderte das alles nichts. Er teilte mit: „Ein Kindheitstraum wird wahr. Ich kann es kaum erwarten, die Hymne zu hören.“