Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Scharfe Kritik in Richtung Belarus
Auch ein Jahr nach der umstrittenen Wahl und den Massenprotesten in Belarus geht das Regime mit aller Härte gegen Kritiker vor. Aber der Siegeswille der Opposition im Exil ist ungebrochen
Vilnius. Die Europäische Union erhebt wegen der stark steigenden Migrantenzahlen an der litauischen Eu-außengrenze schwere Vorwürfe gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. Womit es die EU zu tun habe, sei nicht in erster Linie eine Migrationskrise, sondern ein „Akt der Aggression“des Lukaschenko-regimes, sagte Eu-innenkommissarin Ylva Johansson am Rande von Gesprächen in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Eine solche Provokation sei „absolut inakzeptabel“.
Kristina Timanowskaja will eigentlich nur laufen. Die Belarussin ist keine politische Aktivistin, sondern Sprinterin. Die 200 Meter sind ihre Paradestrecke. Doch am Montag stellt die 24-Jährige in der polnischen Botschaft in Tokio einen Asylantrag. Ihr Ehemann flieht am gleichen Tag in die Ukraine. „Es wird Druck auf mich ausgeübt“, sagt sie. Druck durch das Regime von Diktator Alexander Lukaschenko. Anders ist das nicht zu verstehen. Denn der 66-Jährige wacht über allem, was sich im belarussischen Sport tut.
Genau deswegen will der Verband Timanowskaja von Olympia in Japan „nach Hause holen“. Die Athletin hatte es gewagt, die eigenen Funktionäre öffentlich zu kritisieren – bei einem heiklen Thema: „Es gab zu wenig Dopingtests.“Als sie ausgeflogen werden soll, flüchtet sie zur Polizei. Erinnerungen werden wach an den Blogger Roman Protassewitsch, den Lukaschenko im Mai mitsamt einer Ryanair-maschine entführen ließ.
Zahl der Gequälten, Gefangenen und Geflüchteten in die Zehntausende
Der Fall Timanowskaja zeigt: Einfach nur laufen, das geht in Belarus nicht mehr. Ein Jahr nach der gefälschten Präsidentschaftswahl und den folgenden Massenprotesten ist dort nichts mehr unpolitisch. Kunst zum Beispiel. Das Regime zwingt gerade den Schriftstellerverband zur Auflösung. Und schon gar nicht darf man in Belarus Lieder singen, wie sie der „Freie Chor“im Repertoire hat.
Zwei Dutzend junge Menschen sind das, die deshalb im Warschauer Schloss auftreten statt in ihrer Heimat. „Reiß die Gitterstäbe aus den Mauern“, singen sie und bringen den Saal zum Beben: „Zerreiß die Fesseln, zerbrich die Peitsche. Dann werden die Mauern fallen – und die alte Welt begraben.“
Das Lied war im Protestsommer 2020 die Hymne der Lukaschenkogegner. Doch kämpferische Worte sind das eine. Mehr noch ist es der Auftritt selbst, mit dem der Chor den revolutionären Funken neu entfacht. Im Exil, für einen Abend. Denn der Protest im eigenen Land wurde niedergeknüppelt und findet nur noch im Verborgenen statt. In Weiß sind sie gekleidet, auch die Köpfe verhüllt. Über den Augen prangt ein rot glänzender Sichtschutz. Es sind die Farben der Opposition. Die Masken sollen dem Geheimdienst KGB die Verfolgung erschweren. Siehe Protassewitsch.
Das Publikum bejubelt die Musik. Viele Belarussen, die im polnischen Exil leben, singen voller Inbrunst mit. Im Hintergrund flimmern Bilder aus dem Sommer 2020 über eine Leinwand. Sie zeigen Swetlana Tichanowskaja, die junge Lehrerin und Mutter, die bei der Präsidentschaftswahl am 9. August gegen Lukaschenko antritt – und vermutlich mehr Stimmen bekommt als der Alleinherrscher nach 26 Jahren an der Macht.
Sie zeigen aber auch die schwer bewaffneten Einheiten der Sonderpolizei Omon, die auf alle einprügeln, die es wagen, gegen Lukaschenkos behaupteten Sieg zu protestieren. Ein Jahr danach geht die Zahl der Gequälten, Gefangenen und Geflüchteten in die Zehntausende. Wer stören könnte, wird eingekerkert oder ins Exil getrieben.
Im Sommer 2020 trifft es Swetlana Tichanowskaja als eine der Ersten. Der KGB unterzieht sie einer Psychofolter, zwingt sie außer Landes, nach Litauen. Ihre Mitstreiterin Maria Kolesnikowa wehrt sich gegen die Abschiebung. An der Grenze nutzt sie eine Unaufmerksamkeit ihrer Bewacher, zerreißt ihren Pass und klettert aus dem Autofenster. Lukaschenko lässt sie in ein Sondergefängnis sperren.
Am Mittwoch beginnt ein Geheimprozess gegen die Musikerin, die lange in Deutschland gelebt hat. Versuchter Staatsstreich, lautet der Vorwurf. Zwölf Jahre Haft drohen Kolesnikowa. „Aber sie wird die Zeit nicht bis zu Ende absitzen müssen.“Davon sind die Exil-oppositionellen im Warschauer Schloss überzeugt. Ihre Namen wollen sie nicht preisgeben. Doch trotz des „Staatsterrors“sind die Regimegegner sicher: „Lukaschenko wird den Kampf verlieren, denn er hat das Volk verloren.“
Sie sagen es mit einer solchen inneren Gewissheit, dass der Hinweis auf die realen Machtverhältnisse fast deplatziert wirkt. Zur Wirklichkeit gehört allerdings, dass sich Lukaschenko auf die Hilfe des russischen Präsidenten Wladimir Putin stützen kann. „Schiwje Belarus“, singt der Chor trotzig. Es lebe Belarus!
Nichts sehnlicher wünscht sich auch Tatjana Chomitsch, die in der ersten Reihe sitzt. Denn das Konzert ist ihrer Schwester Maria Kolesnikowa gewidmet. In einer Pause tritt Chomitsch ans Mikrofon. Zu jung wirkt sie mit ihren 34 Jahren und zu klein, um Lukaschenko die Stirn bieten zu können. Dem Diktator, der gern auch mal mit Kalaschnikow in den Händen auftritt.
Tatjana Chomitsch kann ihm nur ihr schüchternes Lächeln entgegensetzten und diesen eigentümlichen Glanz in ihren Augen, der von einer fast unwirklichen Kraft zeugt. „Man bekommt die Freiheit nicht geschenkt“, sagt sie. Das zeige sich in Belarus gerade. „Aber eines habe ich von Maria gelernt: Wenn wir zusammenstehen, müssen wir keine Angst haben.“
Auch Pawel Latuschko hört zu. Der 48-Jährige war einst Kulturminister in Lukaschenkos Kabinett. Doch er schloss sich der Opposition an. Weil er nicht länger einem Mann dienen wollte, der sich „als geborener Alleinherrscher sieht.“Im polnischen Exil leitet er eine Art Schattenregierung. Latuschko glaubt an den Freiheitswillen seiner Landsleute. „Wir haben die Kraft, unsere Ziele zu erreichen“, sagt er und fügt wie nebenbei hinzu: „Lukaschenko wird sein Amt verlieren.“