Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
„Das sind auch Menschen“
Vor einem Jahr nimmt sich in Gräfentonna ein Insasse das Leben. Seine Mutter kämpft um Aufklärung
Tatjana Primke schämt sich ihrer Tränen nicht. Das Gespräch über ihren Sohn wühlt sie auf. Auch ein Jahr danach kann es die Mutter immer noch nicht richtig fassen: Michel lebt nicht mehr. Ihr Sohn hat sich das Leben genommen – im Knast.
Am 21. Juli 2020 berichtet diese Zeitung, dass ein Häftling tot in seiner Zelle in der Justizvollzugsanstalt Tonna gefunden wurde. Der Haftraum ist videoüberwacht. Dennoch gelingt es dem 30-Jährigen, sich mit einer Trainingshose am Fenster der Zelle zu erhängen. „Er muss verzweifelt gewesen sein“, sagt seine Mutter unter Tränen. Sie weiß: Ihr Sohn hat in seinem Leben viel mit Drogen zu tun gehabt und sicher nicht zu Unrecht hinter Gittern gesessen. Aber: Aus Sicht von Tatjana Primke haben die Justizbeschäftigten und auch die Anstaltsärztin einen Anteil an seinem Tod. Sie hätten ihn, klagt Tatjana Primke mit schwacher Stimme, „offenbar einfach sterben lassen“.
Seit einem Jahr kämpft die Mutter darum, mehr über die Todesumstände ihres Sohnes zu erfahren. An ihrer Seite ist Rechtsanwalt Tobias Goldmann. Er geht jetzt mit Beschwerden gegen zwei Entscheidungen der Erfurter Staatsanwaltschaft vor. Die Behörde hatte den Tod des Insassen untersuchen lassen. Ermittelt wurde gegen zwei Justizbedienstete, die den Suizid trotz Videoüberwachung der Zelle nicht bemerkt haben. Hier habe sich, sagt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft, kein hinreichender Tatverdacht ergeben, „sodass das Verfahren einzustellen war“. Auf die Einleitung von Ermittlungen gegen die Gefängnis-ärztin wurde verzichtet. Hier sieht die Anklagebehörde keinen Anfangsverdacht, der die Aufnahme von Ermittlungen rechtfertigen würde.
Vorwurf: Zeugen wurden nicht verhört
Tobias Goldmann und seine Mandantin sehen das anders. Der Anwalt erhebt schwere Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft. Man könne, sagt er, den Eindruck gewinnen, dass die Staatsanwaltschaft die Umstände des Todes nicht ermitteln wolle. Das schreibt Goldmann in einem der zahlreichen Schriftsätze an die Anklagebehörde.
Goldmann hält es für eine grobe Verfehlung, dass zwei Zeugen in dem Zusammenhang nicht vernommen worden seien. Ein Mitgefangener aus einem anderen Haftraum habe sich bei ihm unmittelbar nach dem Suizid gemeldet und kundgetan, dass man der Bitte um Verlegung des Mannes nicht nachgekommen sei. Diese Informationen habe er umgehend an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet.
Der Sohn seiner Mandantin habe sich, sagt Goldmann, auf Entzug befunden, was auch die Unterbringung in einer videoüberwachten Zelle begründet. „Die Argumentation der Staatsanwaltschaft, wonach es sich beim Tod […] um einen freiverantwortlichen Tod handelte, geht hier fehl“, heißt es dann auch in einem Beschwerdeschreiben des Anwalts; er verweist auf die zahlreichen Entzugserscheinungen. Überdies ist aus Sicht des Anwalts und seiner Mandantin nicht hinreichend aufgeklärt, warum die beiden Justizbediensteten den Suizid über eine Stunde lang nicht bemerkt haben wollen. Der Tod von Michel D. wurde erst nach dem Schichtwechsel festgestellt – trotz videoüberwachtem Haftraum.
Noch deutlicher wird der Anwalt bei seiner Beschwerde gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, keine Ermittlungen gegen die Anstaltsärztin einzuleiten. Denn hier hat es insbesondere die Begründung der Einstellung in sich, die dieser Zeitung vorliegt. Dort wird festgestellt, dass sich der Inhaftierte bereits getötet hatte und es deshalb nicht mehr zu einer geplanten Untersuchung im Hinblick auf seine Entzugserscheinungen kommen konnte. „Das ist schlicht falsch“, sagt Goldmann im Gespräch mit dieser Zeitung und verweist auf die Krankenakte. Am 16. Juli sei die Ärztin bei dem Inhaftierten gewesen und habe eine Kontrolle für den nächsten Tag angekündigt, schreibt Goldmann in seiner Beschwerde.
Die Staatsanwaltschaft gibt in ihrer Einstellungsentscheidung an, dass diese Kontrolle nicht mehr erfolgen konnte, weil der Tod bereits eingetreten gewesen sei. Tatsächlich erhängte sich D. aber erst am 18. Juli – also einen Tag später. „Nach alledem ergeben sich konkrete Hinweise dafür, dass […] die notwendige Behandlung unterlassen wurde“, schreibt Goldmann an die Staatsanwaltschaft. Auch hier moniert der Anwalt, dass vorhandene Zeugen nicht gehört worden seien. So habe ein Insasse mitbekommen, dass D. gefleht habe, in ein Krankenhaus verlegt zu werden. Diese Bitte sei abgelehnt worden mit der Begründung, dass es dafür – trotz immensen Drogen-entzugs – keine Veranlassung gebe. Dieser Zeuge sei, schreibt Goldmann, nach eigenen Angaben derjenige gewesen, der zuletzt mit D. sprach.
Missstände erkennen und beheben
Die Staatsanwaltschaft Erfurt wird sich nicht selbst mit den Beschwerden gegen ihre Entscheidungen befassen. Dafür sei, heißt es auf Nachfrage, jetzt die Generalstaatsanwaltschaft zuständig, die die Beschwerden weitergeleitet bekomme. Auch vor diesem Hintergrund werde sich die Erfurter Staatsanwaltschaft nicht zu konkreten Fragestellungen äußern, sagt ihr Sprecher Hannes Grünseisen auf Anfrage.
Für Tatjana Primke gibt es auch nach einem Jahr keine vollständige Gewissheit über die Umstände des Todes von Michel D., ihrem geliebten Sohn. War er vielleicht doch sein Leben leid? „Niemals“, sagt die Mutter. Er habe das Leben geliebt. Was sie mit ihrem Schritt an die Öffentlichkeit erreichen will? Tatjana Primke hat mit dieser Frage gerechnet. Es gehe ihr nicht darum, ihren Sohn zu rächen und dafür jemanden im Gefängnis zu sehen. „Es geht mir darum, dass Missstände erkannt und behoben werden“, sagt sie. Sie weint noch immer. Ihren Sohn wird dieser Kampf nicht mehr lebendig machen. Vielleicht helfe er anderen Inhaftierten. „Das sind auch Menschen“, sagt sie.
Menschen, die unter Suizidgedanken leiden, finden bei der Telefonseelsorge unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 / 0800-111 0 222 und 116 123 anonym und rund um die Uhr Hilfe. Über die Homepage der Telefonseelsorge www.telefonseelsorge.de sind auch E-mail- und Chatberatungen möglich.