Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Der Klang von gestern

Der Yiddish Summer erweckt verloren geglaubte Melodien zum Leben

- Von Elena Rauch

In einer Ehe ergeht es den Menschen wie im Leben überhaupt: Freude und Betrübnis liegen oft nebeneinan­der, das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben. Weshalb eine jüdische Braut, bevor sie unter den Baldachin tritt, daran in lebensweis­er Absicht erinnert wird. Mit einer Melodie, die möglichst überzeugen­d Tränen löst, erklärt Samuel Seifert, und lässt erst dann die Geige schluchzen. Ein schönes Beispiel dafür, dass man nicht nur sieht, sondern zuweilen auch nur hört, was man weiß.

Samuel Seifert gehört zu den „Wandering Stars“des Yiddish Summer, mit Christina Crowder, Abigale Reisman und Christian Dawid spielen sie an diesem Abend auf der Bühne des Erfurter Zughafens Ungehörtes. Besser: Sehr lange nicht mehr Gehörtes. Denn das Konzert der vier Musiker ist Ergebnis eines Fundes und eines daraus folgenden musikhisto­rischen Projekts des Yiddish Summer, dessen Bedeutung der Kurator des Festivals Andreas Schmitges gar nicht genug rühmen kann. Es erweitere mit einem Streich das Wissen um jiddische Musik und das Repertoire um Stücke, die man eigentlich verloren glaubte. Unschätzba­r für Musiker und Forscher.

Die Geschichte in groben Zügen: Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts machten sich in ganz Europa Künstler und Wissenscha­ftler auf, um Zeugnisse traditione­ller Kultur zu sammeln. Getrieben von der Sorge, sie könnten der angebroche­nen Moderne irgendwann zum Opfer fallen. Einer von ihnen war der russisch-jüdische Musikethno­graf Zusman Kiselgof. Auf Forschungs­reisen durch die Ukraine und Weißrussla­nd sammelte und dokumentie­rte er mehr als 1000 Klezmer-melodien und interviewt­e Künstler, die ihren Lebensunte­rhalt mit der Musik verdienten, konservier­te einige dieser Zeugnisse sogar auf Wachswalze­n.

Seine Aufzeichnu­ngen gelangten nach 1945 in das Archiv der ukrainisch­en Nationalbi­bliothek Kiew, galten aber lange Zeit als verscholle­n. Vor wenigen Jahren erst wurden sie zugänglich, seitdem arbeiten Wissenscha­ftler länderüber­greifend an ihrer Digitalisi­erung und dem Ausloten dieses Schatzes. Dass diese Spurensuch­e irgendwann nach Weimar zum Yiddish Summer führen würde, ist beinahe zwangsläuf­ig. Es liegt in der DNA dieses Festivals, das sich nicht nur als Bühne für jiddische Musik versteht, sondern auch als Forschungs­raum. Das Konzert feiert die Wiederaufe­rstehung dieser Melodien. Authentisc­h fast, erarbeitet von den Künstlern in Workshops und erstmalig öffentlich gespielt. Als habe man eine Zeitkapsel geöffnet. Der Klang von gestern, erzählt entlang einer Hochzeit, weil sie einst zum Kerngeschä­ft eines Klezmermus­ikers gehörte.

Bittersüß, wenn für die Braut der Tag der Tage anbricht, ausgelasse­n, wenn beim Tanz das Leben gefeiert wird, melancholi­sch, wenn die ermüdeten Gäste nach Hause begleitet werden… Aufs Geschichte­nerzählen haben sie sich beim Yiddish Summer schon immer verstanden. Man hört Virtuoses von der Violine, als sei hier Paganini am Werk gewesen, rumänisch anmutenden Klänge aus Bessarabie­n, sogar ein Walzer kommt vor. Weil die Kulturen schon immer gegenseiti­g Impulse aufnahmen. Am Ende zehren wir alle von den selben Wurzeln: Das war von Anbeginn eine Botschaft des Festivals.

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FOTO: ELENA RAUCH Die „Wandering Stars“vom Yiddish Summer während ihres Konzerts im Zughafen Erfurt am Sonntagabe­nd.
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FOTO: KISELGOF-MAKONOVETS­KY DIGITAL MANUSCRIPT PROJECT Eine Seite aus dem Archiv des russisch-jüdischen Liedersamm­lers Zusman Kiselgof.

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