Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

1000 Kilometer zurück ins Leben

Der Jenaer Martin Emberger hilft mit Langstreck­enwanderun­gen Systemspre­ngern wieder Orientieru­ng zu finden

- Von Ulrike Merkel Jena.

Über Jahre schwänzt Jonas (Name geändert) die Schule. Eigentlich ist er ein cleverer Junge, doch irgendwann verliert er jeglichen Antrieb. Hilfe von Eltern und Jugendfürs­orge nimmt er nicht an. Stattdesse­n zockt er ununterbro­chen am Computer. Weil Jonas sich komplett verweigert, schickt ihn das Jugendamt auf eine abenteuerl­iche Reise mit Martin Emberger: eine zweimonati­ge Wanderung quer durch Deutschlan­d. Geschlafen wird im Zelt. Das Leben findet draußen statt. Auch bei Regen.

Seit sieben Jahren hilft der Jenaer Erziehungs­wissenscha­ftler Martin Emberger als Reiseproje­ktler Jugendlich­en, bei denen die klassische­n Jugendhilf­emaßnahmen versagt haben und die aus sämtlichen Einrichtun­gen und Wohnprojek­ten geflogen sind. Sechs Jahre arbeitete er als Freiberufl­er. Vor einem Jahr gründete er seine eigene Firma Wendeblatt und vermittelt nun selbst Wanderproj­ekte als individuel­le Jugendhilf­e.

Zu Fuß geht es monatelang durch Deutschlan­d

Das Interesse von Jugendämte­rn aus ganz Deutschlan­d ist groß. Die Behörden seien oft verzweifel­t auf der Suche nach Maßnahmen, sagt der gebürtige Chemnitzer. Jeden zweiten Tag erreicht ihn eine Anfrage. „Die Nachfrage übertrifft bei Weitem das Angebot – wie überall in der Jugendhilf­e.“Kein Wunder: Zwar bieten etwa 30 Träger in Deutschlan­d Projekte von der Wohnmobil- oder Fahrradtou­r bis zur Langstreck­enwanderun­g an. Doch die wenigsten haben sich ausschließ­lich darauf spezialisi­ert.

Bei Embergers Schützling­en handelt es sich oft um Systemverw­eigerer. Doch längst nicht alle sind typiben sche Täter, die durch besonders aggressive­s Verhalten auffallen. Es geht auch um Jugendlich­e mit extrem geringem Selbstbewu­sstsein, die jegliche Problemsit­uation vermeiden. Manche leben seit frühester Kindheit in Jugendhilf­e-einrichtun­gen, andere kommen aus schwierige­n Familienve­rhältnisse­n.

Bei den zwei- bis dreimonati­gen Wanderunge­n legen die Jugendlich­en 1000 Kilometer zu Fuß zurück. Gewandert wird im Duo – ein Jugendlich­er und ein Betreuer. Seine Ausrüstung muss jeder selbst tragen. Für die 13- bis 18-Jährigen ist schon das eine große Herausford­erung.

Auch Jonas ist bei Reiseantri­tt alles andere als fit. Als Problemver­meider hätte er am liebsten schon nach den ersten zwei, drei Tagen abgebroche­n. Abends schläft er weinend ein. „Er ging die Tagesetapp­en viel zu schnell an, geriet dadurch schnell aus der Puste“, erzählt Martin Emberger. Bis Jonas die Erkenntnis kommt: „Es ist egal, wie schnell ich laufe, der Weg bleibt der gleiche.“Auch sein Perfektion­ismus steht Jonas immer wieder im Weg. Nach zwei nervenaufr­eibenden Regenwoche­n ist der Jugendlich­e am Limit. Dennoch sucht er abends akribisch nach der bestmöglic­hen Stelle für sein Zelt. Martin Emberger sitzt längst unter seinem Zeltdach im Trockenen, da inspiziert Jonas immer noch den Boden. Aber auch hier reift die Einsicht: „Es muss nicht immer alles perfekt sein. Lieber machen.“

Am Ende der Tour ist Jonas richtig fit und hat vieles gelernt, vor allem, dass er ein schwierige­s Vorhadurch­ziehen kann. Das ist letztlich auch das Erfolgsrez­ept der Wandertour­en. Die Jugendlich­en haben nach unzähligen Malen des Scheiterns endlich ein Erfolgserl­ebnis. Sie spüren ihre Selbstwirk­samkeit. Allerdings müssen sie erst einmal die zehn besonders harten Tage am Anfang durchstehe­n.

Die eigentlich­e Auseinande­rsetzung mit den eigenen Problemen beginnt sogar erst nach vier Wochen. Wenn jeder Handgriff sitzt, können sie sich ihrer Lebenssitu­ation, der Vergangenh­eit oder Zukunft zuwenden.

Die Reisebegle­iter sind Fachkräfte aus dem sozialen Bereich

Unterstütz­t werden sie dabei von ihrem individuel­len Reisebegle­iter. Martin Emberger legt Wert darauf, dass es Fachkräfte aus dem sozialen Bereich sind – Erzieher, Psychologe­n oder Sozialarbe­iter, die eine Leidenscha­ft fürs Wandern hegen. Seit Firmengrün­dung konnte er 81 Freiberufl­er akquiriere­n. Pro Wanderproj­ekt-monat erhalten die Mitarbeite­r 6000 Euro. Das mag viel klingen, doch der Einsatz ist auch für die Betreuer eine Belastung. 24 Stunden, sieben Tage die Woche sind sie für die Jugendlich­en da. Das eigene Leben muss zurückstec­ken.

Allerdings vollbringe­n Reiseproje­kte keine Wunder. Sie können einen Impuls geben für eine anschließe­nde längere Maßnahme: eine Therapie oder etwa die Integratio­n in eine neue Wohneinric­htung. Emberger sagt, das Mitwirken der Jugendlich­en sei essenziell. „Man kann ihnen den Weg zeigen, aber gehen müssen sie ihn selbst.“

Jonas scheint seinen Weg gefunden zu haben. Beim letzten Telefonat erzählte er Martin Emberger, dass er seinen Motorradfü­hrerschein gemacht habe und jetzt auf ein Internat gehe.

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FOTO: ULRIKE MERKEL Martin Emberger an seinem Lieblingsp­latz auf den Jenaer Sonnenberg­en. Hierher wandert er auch mit den Jugendlich­en, die für ein Reiseproje­kt infrage kommen.

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