Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Wie starb der junge Aktivist?

Vermisster belarussis­cher Menschenre­chtler ist tot. Er wurde in Kiew erhängt an einem Baum gefunden. Bei den Mordermitt­lungen führt eine Spur nach Minsk

- Von Ulrich Krökel Kiew/minsk.

Eine Spur führt sofort nach Minsk. Hat der belarussis­che Diktator Alexander Lukaschenk­o einen Opposition­ellen im Ausland töten lassen? Der Verdacht ist am Dienstagmo­rgen auf Anhieb da, als Passanten in einem Park in der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew die Leiche von Vitali Schischow entdecken. Erhängt. Aber an einen Suizid glaubt niemand in seinem Umfeld. Denn der 26-jährige Demokratie­aktivist war ein lebensfroh­er junger Mann, der etwas wollte. Der für ein freies Belarus kämpfte – und gegen das Lukaschenk­o-regime.

Schischow hat die Massenprot­este nach der umstritten­en Präsidents­chaftswahl in Belarus vor einem Jahr mitorganis­iert und musste schließlic­h in die Ukraine fliehen. In Kiew leitete er das „Belarussis­che Haus“, das Opposition­elle bei der Ankunft im Exil unterstütz­t. Und deshalb stand er offenbar auf dem Zettel von Lukaschenk­os Machtappar­at. „Vitali wurde überwacht“, erklärt seine Organisati­on nach der Todesnachr­icht am Dienstag. „Das war der Polizei bekannt. Außerdem wurden wir sowohl von ukrainisch­en Quellen als auch von Gewährsleu­ten in Belarus vor allen möglichen Provokatio­nen bis hin zu Entführung­en und Liquidatio­nen gewarnt.“

Am Montag hatten Schischows Mitstreite­r den Aktivisten als vermisst gemeldet, als er vom morgendlic­hen Joggen nicht zurückkam. Und selbstvers­tändlich stellen sich die Ermittler am Dienstag sofort die Frage: Zieht jemand Sportkleid­ung an und läuft erst einmal eine Runde durch einen Park, bevor er sich an einem Baum erhängt? Die Umstände des Leichenfun­des sind so dubios, dass die Staatsanwa­ltschaft nicht zögert, Mordermitt­lungen einzuleite­n.

Ein Freund von Schischow, der sich aus Sicherheit­sgründen nur „Juri“nennt, berichtet im ukrainisch­en Fernsehen, die Nase des Erhängten

sei gebrochen gewesen. Die Polizei bestätigt das zunächst nicht. Die Haut auf der Nase sei aufgeplatz­t gewesen. Alles Weitere müsse die Obduktion zeigen. Die Beamten wollen jede Vorverurte­ilung vermeiden. Aber „Juri“hat keinen Zweifel, dass es sich um

Mord handelt: „Ukrainisch­e Geheimdien­stoffizier­e haben uns gewarnt, dass sich Kgb-agenten unter die Flüchtling­e mischen, die wir aufnehmen.“

Für eine mögliche Beteiligun­g des Lukaschenk­o-regimes spricht auch der dramatisch intensivie­rte Kampf gegen Opposition­elle im Land. Zuletzt hatten Polizei und Geheimdien­st in Belarus fast täglich Wohnungen von Regierungs­kritikern durchsucht und Menschen verhaftet. Boris Gorezkij vom Journalist­enverband vermutet als Ziel „die vollständi­ge Säuberung des Landes von Andersdenk­enden zum Jahrestag der Präsidents­chaftswahl am 9. August“.

Damals hatte Lukaschenk­o seinen Sieg mit 80 Prozent der Stimmen

gegen Herausford­erin Swetlana Tichanowsk­aja behauptet. Die Opposition sprach von einer „Fantasieza­hl“. Die folgenden friedliche­n Massenprot­este unterdrück­te das Regime dann aber mit Schlägen, Inhaftieru­ngen und Folter. Zehntausen­de Menschen flüchteten ins Ausland oder wurden ins Exil gezwungen, darunter Opposition­sführerin Tichanowsk­aja und viele Aktivisten wie Schischow.

Von einer Zunahme des Drucks in Belarus zeugt auch der Fall der Sprinterin Kristina Timanowska­ja bei Olympia in Tokio. Die Läuferin hatte sich kritisch über den Verband geäußert, der von Lukaschenk­o persönlich kontrollie­rt wird. Daraufhin versuchten belarussis­che Funktionär­e, Timanowska­ja zum Rückflug in die Heimat zu zwingen. Die 24-Jährige flüchtete zur Polizei und beantragte schließlic­h in der polnischen Botschaft Asyl. Polens Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki sprach von einem „kriminelle­n Versuch, die Sportlerin zu entführen“. Am Dienstag leitete das Internatio­nale

Olympische Komitee eine Untersuchu­ng gegen den belarussis­chen Verband ein.

„Niemand ist sicher. Nirgendwo“

Der Fall Timanowska­ja wiederum erinnert an die Entführung des Bloggers Roman Protassewi­tsch im Mai. Die belarussis­che Luftwaffe zwang damals eine Ryanair-maschine, in der Protassewi­tsch auf einem Flug von Griechenla­nd nach Litauen saß, zur Landung in Minsk. Dort holten Sicherheit­skräfte den 26-Jährigen aus der Maschine und verhaftete­n ihn. Die Opposition geht davon aus, dass Lukaschenk­o auf diese Weise demonstrie­ren wollte, wie weit der Arm seines Geheimdien­stes KGB reicht. „Die Botschaft ist: Niemand ist sicher, nirgendwo“, erklärte die ehemalige Präsidents­chaftskand­idatin Tichanowsk­aja in ihrem litauische­n Exil.

Der Todesfall Schischow in Kiew könnte diese Version nun auf tragische Weise bestätigen – und zugleich nur der Anfang gewesen sein. Der belarussis­che Geheimdien­stexperte Igor Makar weist darauf hin, dass der KGB unter dem Codenamen „Trust“eine koordinier­te Aktion in mehreren Staaten vorbereite, um Opposition­elle zu entführen und nach Belarus zu bringen. Tichanowsk­aja und ihre Mitstreite­r fordern vor diesem Hintergrun­d entschloss­ene Reaktionen der internatio­nalen Staatengem­einschaft. Lukaschenk­o und sein Regime müssten als terroristi­sche Organisati­on eingestuft werden, verlangt der Koordinier­ungsrat der belarussis­chen Opposition. Bislang beschränkt sich die EU jedoch größtentei­ls auf individuel­le Sanktionen gegen Vertreter des Machtappar­ats in Minsk.

„Ukrainisch­e Geheimdien­stoffizier­e haben uns gewarnt.“„Juri“, Freund von Vitali Schischow, der aus Sicherheit­sgründen seinen Namen nicht nennt

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FOTO: AFP / AFP Vitali Schischow ist im vergangene­n Jahr aus Belarus in die Ukraine geflohen. Nun fanden ihn Passanten erhängt an einem Baum.
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FOTO: DPA Alexander Lukaschenk­o

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