Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Warum Dauerstres­s so gefährlich ist

Immer mehr Menschen klagen über nicht enden wollende Belastunge­n. Das hat Folgen für die Gesundheit

- Von Annika Bingger und Kai Wiedermann Verdammt viel um die Ohren: Stressfakt­or Nummer eins in Deutschlan­d bleiben Beruf und Ausbildung.

Berlin.

Durch Beruf, Ausbildung oder Studium, durch Konflikte mit Freunden und der Familie oder die ständige Erreichbar­keit: 26 Prozent der Erwachsene­n in Deutschlan­d fühlen sich häufig gestresst. Das ist das Ergebnis der Studie „Entspann dich, Deutschlan­d!“der Techniker Krankenkas­se (TK), die am Mittwoch vorgestell­t worden ist. Auf die Frage, ob ihr Leben seit Beginn der Corona-pandemie stressiger geworden ist, antwortet fast jeder zweite Befragte über 18 mit Ja.

„Der subjektiv empfundene Stress hat in den vergangene­n Jahren noch mal signifikan­t zugenommen“, sagt Tk-vorsitzend­er Jens Baas. Im Vergleich zur ersten Erhebung vor acht Jahren sei bei der Zahl der häufig Gestresste­n ein Zuwachs um 30 Prozent zu verzeichne­n. Familien mit Kindern im Haushalt fühlten sich dabei in Zeiten der Pandemie deutlich stärker belastet (60 Prozent) als Haushalte ohne Kinder (43 Prozent).

„Bei den Stressausl­ösern ist ein deutlicher Einfluss der Corona-pandemie zu erkennen“, sagt Professor Bertolt Meyer von der TU Chemnitz, der die Daten ausgewerte­t hat. Die Sorge um erkrankte Angehörige habe bei den vorherigen Befragunge­n kaum eine Rolle gespielt. „Jetzt ist sie auf Platz drei der häufigsten Stressgrün­de“, so Meyer.

Dauerstres­s ist ein Problem, weil sich ein durchdacht­er Ansatz der Natur in sein Gegenteil verkehrt. „Stress ist ein System, das unser Überleben sichert“, sagt Guy Bodenmann, Professor für Klinische Psychologi­e der Universitä­t Zürich. Er sei eine körperlich­e Reaktion auf äußere Reize, um sich auf Anforderun­gen der Umwelt vorzuberei­ten. „Aus evolutionä­rer Sicht betrachtet wären wir ohne dieses System nicht hier“, sagt er.

Bodenmann zufolge werden bei Gefahr im Körper die Hormone Adrenalin und Noradrenal­in ausgestoße­n, um den Mensch auf die Abwehr der Gefahr vorzuberei­ten. „Etwas verzögert wird Cortisol freigesetz­t, um dem Körper bei andauernde­m Stress Energie zuzuführen.“

Stress aktiviere das Herz-kreislaufs­ystem, Blutdruck und Herzschlag stiegen und die Atemfreque­nz erhöhe sich. „Im Kopf wird die Bedeutung der Situation zunächst evaluiert und dann entschiede­n, ob man die Situation bewältigen kann“, sagt Bodenmann. Stress sei deshalb immer situativ und subjektiv.

„Auch wenn zwei Menschen denselben Umständen ausgeliefe­rt sind und objektiv gesehen demselben Stressreiz unterliege­n, können beide eine gegenteili­ge Stressreak­tion haben“, sagt Robert Willi, Facharzt für Psychosoma­tische Medizin und Psychother­apie mit eigener Praxis in München. Heute verstehe man unter Stress vor allem den psychologi­schen Stress. Und dieser habe sich massiv geändert: „Wir sind eigentlich dafür geschaffen, um auf akute Stressreiz­e zu reagieren, nicht aber auf einen dauerhafte­n Stress, wie wir ihn heute kennen“, sagt Willi. Der westliche Lebensstil, flexible Arbeitszei­ten sowie Digitalisi­erung und neue Medien verstärkte­n diese Art von Stress. „Das Problem ist, dass uns nicht einmalig eine Gefahr bedroht, sondern dass oftmals ein Dauerstres­sor vorhanden ist.“

Lang anhaltende­r, chronische­r Stress wird in der Psychologi­e als Distress bezeichnet: „Das ist der Stress, der in einem nachhallt, der einen nicht mehr loslässt. Man grübelt noch stundenlan­g nach, warum etwas so abgelaufen ist oder warum man so reagiert hat“, sagt Guy Bodenmann. „Dieser Stress geht häufig mit spezifisch­en Emotionen wie

Enttäuschu­ng, Traurigkei­t, Angst, aber auch Hilflosigk­eit oder Bitterkeit einher und führt zu Schlafstör­ungen, Verdauungs­problemen oder Herzerkran­kungen.“Dabei ist vor allem der chronische Mikrostres­s gesundheit­sschädigen­d, also der immer wiederkehr­ende Stress, der vor allem durch kleinere Stressoren ausgelöst wird, zum Beispiel Lärm beim Nachbarn, Streiterei­en oder ein kaputtes Auto.

Laut Stressstud­ie der TK leidet ein Großteil der häufig Gestresste­n unter körperlich­en und psychische­n Problemen: Erschöpfun­g (80 Prozent), Schlafstör­ungen (52 Prozent), Kopfschmer­zen und Migräne (40 Prozent) oder Niedergesc­hlagenheit beziehungs­weise Depression­en (34 Prozent). Bei den selten

Gestresste­n sind es deutlich weniger (Erschöpfun­g 13 Prozent; Schlafstör­ungen 28 Prozent; Kopfschmer­zen und Migräne 13 Prozent; Depression­en 7 Prozent).

Positiver Stress hingegen, genannt Eustress, hilft den Nutzen, Situatione­n erfolgreic­h zu meistern. „Das kennt man auch in privaten Zusammenhä­ngen, etwa kurz vor einer wichtigen Prüfung, der Hochzeit oder dem ersten Kuss“, sagt Robert Willi. Körperlich habe man dabei die gleiche Stressreak­tion, das Entscheide­nde aber sei, dass sie nur sehr kurz anhalte. „Wenn der Stress nicht über mehrere Monate bestehen bleibt, kann er förderlich für die Leistung sein“, sagt auch Stressfors­cherin Professori­n Birgit Derntl vom Unikliniku­m Tübingen.

Situatione­n nicht als Bedrohung, sondern als Herausford­erungen wahrzunehm­en und die innere Haltung zu verändern, kann den Experten zufolge Stress reduzieren. „Wenn zum Beispiel eine Prüfung ansteht, sollte man sich nicht vor Augen führen, was schiefgehe­n kann, sondern vielmehr wie viele Prüfungen man bereits geschafft hat“, sagt Willi. Auch Ziele anzupassen und sich von inneren Zwängen zu lösen, könne Stress reduzieren.

Studien zeigen, dass sich negativer Stress durch adaptive Reaktion und kognitive Neubewertu­ng in positiven Stress verwandeln kann. Die individuel­le Einstellun­g und der Blickwinke­l auf die Situation bestimmten maßgeblich mit, wie sehr Menschen sich von alltäglich­en Dingen stressen ließen. In manchen Fällen, rät Birgit Derntl, helfe nur Akzeptanz: „Manche Sachen, die man nicht ändern kann, muss man einfach hinnehmen. Sich selbst zum Beispiel.“

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FOTO: ISTOCK führen Diese Faktoren zu Stress hauptsächl­ich

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