Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Erfrischen­d anders

Jenaer Inszenieru­ng führt vor Augen, dass es Zeit für wahres Inklusions­theater wird

- Von Ulrike Merkel

Jena.

Anna Schmidt möchte Schauspiel­erin werden. Doch die 19-Jährige weiß, dass sich ihr Wunsch möglicherw­eise nicht erfüllt. Sie habe Atypischen Autismus und ein verkürztes Bein, sagt sie. Damit dürfte es schwer werden, überhaupt eine Rolle zu bekommen. Sie fügt jedoch hinzu: „Menschen mit Behinderun­g sind doch auch Schauspiel­er*innen, keine Objekte.“

Anna Schmidts Monolog trifft ins Mark. Als Theatergas­t hat man sich bislang wenig Gedanken darüber gemacht, dass auf den Bühnen kaum Menschen mit Handycaps zu sehen sind. Ästhetisch­e Experiment­e und progressiv­e Gedanken haben das Augenschei­nlichste verdeckt. Inklusion beschränkt sich vornehmlic­h auf Kindergärt­en und andere Bildungsei­nrichtunge­n. Dabei beschloss die Uno bereits 2006, gesellscha­ftliche Teilhabe sei ein Menschenre­cht.

Nun könnte man einwenden, Menschen mit Behinderun­g könnten möglicherw­eise auf der Bühne bloßgestel­lt werden. Doch Anna Schmidt und ihr sensibel agierender Bühnenpart­ner, der Theaterhau­s-schauspiel­er Lukas David Schmidt, beweisen am Mittwochab­end in Jena das Gegenteil. Ihr Stück „Baby Don’t Hurt Me“ist berührend, inspiriere­nd und erfrischen­d anders.

„Ich spiele manche Szenen halt anders“

Regisseuri­n Susanne Frieling gibt der jungen Schauspiel­erin viel Raum. Doch ihre Inszenieru­ng ist kein rührselige­s Porträt. Gekonnt verwebt Frieling diese authentisc­he Ebene mit zwei literarisc­hen Stoffen: mit Nabokovs „Lolita“und einer Fantasyges­chichte, die die junge Protagonis­tin selbst schrieb. Verblüffen­d organisch wechseln die beiden Schauspiel­er zwischen den Erzähleben­en: Mal schlüpft Anna Schmidt in die Rolle Lolitas und Lukas David Schmidt in die Figur des Humbert Humberts, jenes literarisc­hen Pädophilen, der ein 12-jähriges Mädchen zu seiner Geliebten machte. Mal versinnbil­dlichen die beiden die Protagonis­ten aus Annas Geschichte: Darin entdeckt das junge Mädchen Melissa gerade ihre magischen Fähigkeite­n. Um sie auszuprobi­eren, geht sie in den Wald und sucht nach Einhörnern. Dort trifft sie zufällig auf Törg von der Gattung der Nächtliche­n. Er lädt sie ein. In seinem Garten zu Hause gäbe es viele Einhörner…

„Baby Don’t Hurt Me“setzt sich mit Sexismus, Rollenklis­chees, Emanzipati­on und toxischer Männlichke­it auseinande­r. Es ist eine fragmentar­ische Collage, die auch

Livecam-bilder einsetzt. Im Zentrum dieser bewegenden Jenaer Theaterarb­eit steht jedoch Anna. „Ich spiele manche Szenen halt anders, aber alle Schauspiel­erinnen spielen doch unterschie­dlich“, sagt sie zum Schluss.

Tatsächlic­h spricht sie manchmal etwas verzögert, trifft beim Karaoke nicht jeden Ton und wirkt gelegentli­ch unsicher. Doch genau diese Unverstell­theit entwickelt eine unglaublic­he Kraft. Was hat diese 19Jährige für einen Mut, was für eine Überzeugun­gskraft. Es ist Zeit für wahres Inklusions­theater.

 ?? FOTO: JOACHIM DETTE ?? Anna Schmidt und Lukas David Schmidt in „Baby Don’t Hurt Me“. Normalerwe­ise hätte die Inszenieru­ng im April 2020 das erste Jenaer Inklusions-festival eröffnet. Dass das Stück erst jetzt und unabhängig vom Festival zur Premiere kam, ist der Corona-pandemie geschuldet.
FOTO: JOACHIM DETTE Anna Schmidt und Lukas David Schmidt in „Baby Don’t Hurt Me“. Normalerwe­ise hätte die Inszenieru­ng im April 2020 das erste Jenaer Inklusions-festival eröffnet. Dass das Stück erst jetzt und unabhängig vom Festival zur Premiere kam, ist der Corona-pandemie geschuldet.

Newspapers in German

Newspapers from Germany