Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Die bittere Erfahrung der willkürlichen Herabstufung
In seinem Gastbeitrag blickt Thomas Hartung in unserer Reihe „Ostdeutsch“auf Demütigungen zurück. Und hat eine klare Botschaft
Meine Wende begann im Frühjahr 1989, als etwa 20 Schüler meiner Schule eine unabhängige Schülerzeitung gründeten. Das war so ungewöhnlich, dass die lokalen Funktionäre gar nicht wussten, wie mit diesen arroganten, unverschämten, unglaublich naiven Jugendlichen umzugehen sei. Der Druck war groß, aber vier von uns knickten nicht ein. Bis zum Verbot noch vor der ersten Ausgabe.
Dass dieses Abenteuer Folgen haben könnte, erfuhr ich ein halbes Jahr später, als ich zu Beginn des neuen Schuljahres zu einem Fahnenappell vorgeladen wurde. Es sollte denen, die die Voraussetzungen erfüllten, die Lessing-medaille verliehen werden. Ich war der einzige ohne, denn, so der Direktor, die Auszeichnung sei denen vorbehalten, die auch zu unserer sozialistischen Gesellschaft stünden. Diese peinlich kleinliche Rache wäre vielleicht nur ein Vorgeschmack gewesen, hätte es die DDR ein gutes Jahr später noch gegeben.
Nach Ablauf dieses Jahres war der Direktor keiner mehr, ja nicht einmal mehr Lehrer. Er verhökerte im real überlebenden Kapitalismus Versicherungen an Neubundesbürger. Ich genoss in diesem Jahr die neuen Freiheiten. Ich diskutierte, reiste, träumte. Eigentlich ideale Vo„neubewertung raussetzungen, um mit 20 Jahren im wiedervereinigten Deutschland mein Leben zu beginnen. Wäre da nicht der 4. Oktober 1990 gewesen, an dem ich von der Vereinigungsfeier nach Hause kommend, die Kündigung meines „nicht nach rechtsstaatlichen Grundsätzen erworbenen Studienplatzes“aus dem Briefkasten holte. Und wäre dem nicht das demütigende Verfahren zur
meiner Abiturleistungen“gefolgt. Die war eine willkürliche Herabstufung meiner Noten ohne Leistungsüberprüfung. Mir wurden die alten und die neuen Noten verlesen, ich durfte nach dem Eintreten „Guten Tag“und am Ende „Auf Wiedersehen“murmeln, dazwischen stehen. Und während meine Uni Nachhilfe in den Naturwissenschaften für die Studierenden einrichtete, die zwar die rechtsstaatlichen Anforderungen, nicht aber die Bildungsvoraussetzungen für ein Medizinstudium erfüllten, gaben uns einige westdeutsche Gastprofessoren das Gefühl, wir im Osten seien bildungs- und kulturlose Barbaren, die nur ein Fehler der
Geschichte in diesen Hörsaal gespült habe.
Beim Schreiben spüre ich Zorn in mir aufsteigen. Ich bin ein Wendegewinner und mit der Bundesrepublik mehr als nur arrangiert. Ich führe ein gesamtdeutsches Leben, aber es braucht nicht viel, den Ossi in mir freizulegen. Ich verstehe die Wut Tausender Ddr-rentner, wenn willkürlich über ihre Zusatzrenten entschieden wurde. Ich kann mir vorstellen, was Menschen empfinden, für die 1990 ein Leben zwischen ABM, Arbeitslosigkeit und dann Hartz IV begann. Ein Mitschüler hatte nach der Neubewertung denselben Notenschnitt und gleiche Voraussetzungen wie ich.
Ich bekam den Studienplatz zurück, seiner ging an einen Wessi. Er steht mitten im Leben und trauert dennoch dem Leben nach, das er nicht führen konnte. Mir zeigt das, wie knapp es damals war. Und wie willkürlich. Es ist das Gefühl, Willkür ausgeliefert zu sein, keine Sicherheit im Staat zu finden, auf der Verliererseite zu stehen, mit dem mancher Ossi sich identifiziert. Mal zu Recht, mal nicht. Aber ist dieses Gefühl wert, erhalten zu werden?
Ich werde darauf achten, dass sich mein Kind nicht danach definiert, zu welchem deutschen Staat der Geburtsort gehört hat. Besser noch, es definierte sich gar nicht über Nationen und Staaten.