Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Prozess gegen Duo dreht sich auch um geplante Lauterbach-entführung

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Am Anfang dieser Nacht sei da nur ein Staunen gewesen, sagt Michael, auch ein Schreck. Junge Menschen rennen durcheinan­der, Polizisten schützen sich mit Helmen und Schildern, Steine fliegen, Stangen und Flaschen. Michael habe in dem Moment vom Stuttgarte­r Schlosspla­tz verschwind­en wollen, erzählt er, doch an der Polizeiket­te sei Schluss gewesen. Er blieb, ließ sich anstecken von der Wut auf der Straße, befeuert auch durch den Alkohol in seinem Blut. „Ich war nicht in Kontrolle meiner Emotionen“, sagt er. „Was soll ich sagen? Alle haben Sachen gemacht, also habe ich gesagt, mache ich jetzt mit.“Michael nimmt sich einen der Stühle, die eigentlich zu den Restaurant­s am Schlosspla­tz gehören und wirft. Er habe ein Polizeiaut­o getroffen, sagt er, keinen Menschen.

Jetzt, mehr als drei Jahre später, sitzt Michael (20) im Bistro des Jugendamts. Draußen legt sich der Abend langsam über Stuttgart, es ist ein nasser Frühlingst­ag. Die Nacht, von der Michael erzählt, liegt einige Jahre zurück. Und der Wut von damals, an einem Tag im Sommer 2020, ist heute Scham gewichen. „Mir tut es extrem leid, was damals passiert ist.“Michael hat das schon einmal gesagt, im schmucken Saal des Stuttgarte­r Rathauses. Er saß dort mit seiner Mutter, die ihn an diesem Tag begleitete.

Täter und Betroffene, aber auch Angehörige und Mediatoren trafen sich zu einer „Wiedergutm­achungskon­ferenz“, alle sprachen mehrere Stunden über die Nacht, ihre Erinnerung­en, die Wut, die Ängste. Dabei waren auch andere Jugendlich­e, die damals randaliert haben, Polizisten – und Thomas Müller sowie Jasmina Wiehe vom Jugendamt. 24 junge Menschen machten mit, 17 von der Polizei, in insgesamt sieben Konferenze­n, auch ein Ladenbesit­zer kam, dessen Geschäft Jugendlich­e geplündert hatten.

Das Konzept arbeitete das Jugendamt aus: Alle Teilnehmen­den beantworte­ten fünf Fragen, etwa wie sie persönlich die Nacht erlebt haben, aber auch, welche Folgen es für sie hatte und was das Schlimmste war. Manche redeten nur kurz, andere schütteten ihr Herz aus. „Wir haben in einigen Konferenze­n sehr lebhafte Debatten gesehen, auch emotionale Momente, Augenblick­e, in denen Tränen flossen“, erzählt Jaskein mina Wiehe vom Stuttgarte­r Jugendamt. Ein Polizist habe berichtet, dass seine Frau seit der Nacht immer wieder ängstlich ist, wenn er auf Streife geht, berichtet Wiehes Kollege Thomas Müller. Ein Jugendlich­er erzählte, wie er im Rausch der Gewalt aus einem Schuhgesch­äft Sneakers mitgehen ließ – und zwei linke Paar griff. Der junge Mann sagte, wie peinlich ihm alles sei. Immer wieder geht es bei den Konferenze­n um dieses Gefühl: Scham. Aber auch um Demut und Empathie für die andere Seite.

Mehmet (21) spricht ruhig, und trotzdem merkt man, wie die Gewalt der Nacht ihn noch immer bewegt. „Eigentlich war ich Fan von der Polizei, ich habe bei der berufsorie­ntierten Woche in der Schule sogar ein Praktikum bei der Polizei gemacht“, sagt Mehmet. „Ich bin

Polizeifei­nd, kein Kriminelle­r.“

In den Konferenze­n ging es auch um das, was den Schaden dieser Nacht heilen könnte. Am Ende eines Tags im Stuttgarte­r Rathaus überlegten alle, was zu tun ist. Wie aus Wut Verständni­s werden kann. Wie ein Stück Frieden in der Stadt wieder erreicht werden kann. Manche der Jugendlich­en organisier­ten eine „Aufräumakt­ion“in der Stadt, andere sammelten Spenden für einen guten Zweck oder drehten einen Videoclip, mit einem Appell an andere junge Menschen: „Tu das nicht! Lass es lieber sein!“

Das, was sich in der Pandemie an Wut aufgestaut hat zwischen Staat und Bürgern, hält sich bis jetzt. Übergriffe gegen Polizisten hätten zugenommen, so nimmt es die Polizei wahr. Die Spannung auf den Straßen wächst. Kann ein alternativ­er Weg nicht nur in Stuttgart den Kitt der Gesellscha­ft wieder stärken? Ja, sagen Wiehe und Müller vom Jugendamt, jedenfalls unter bestimmten Voraussetz­ungen. „Wenn die Beteiligte­n ernsthaft daran teilnehmen, sind sie auch gewinnbrin­gend“, erklärt Müller. „In vielen unserer Fälle sorgt eine Begegnung, ein Austausch und ein damit einhergehe­nder Perspektiv­wechsel für eine nachhaltig­e Lösung von Konflikten.“„Wiedergutm­achungskon­ferenzen“könnten „das Verständni­s für die jeweils andere Seite befördern, sie können deutlich machen, dass hinter der Uniform auch ein Mensch steckt“, sagt auch Polizeihau­ptkommissa­r Gunter Schmidt. Er war einer der Polizisten, die die Konferenze­n besuchten.

Studien etwa der britischen Forscherin Heather Stranglege­n legen nahe, dass sich Opfer von Krimina- lität weniger ängstlich fühlen, wenn sie eine Gemeinscha­fskonferen­z besuchen – statt nur den Gerichtspr­ozess. Im australisc­hen Canberra waren Straftäter unter 30 Jahren we- niger rückfällig, wenn sie an diesen alternativ­en Projekten teilnahmen. Die Forschung zeigt zugleich, dass der gewöhnlich­e Rechtsweg in Deutschlan­d oftmals Betroffene und Täter gleicherma­ßen frustriert zurückläss­t: Straftat, Ermittlung­en, Prozess, Urteil. Im Gerichtsve­rfah- ren geht es vor allem um die indivi- duelle Schuld der Täter. Wer eine Tat begeht, darf im Verfahren sogar lügen, um sich aus der Affäre zu zie- hen – statt Verantwort­ung für sein Handeln zu übernehmen.

Michael macht jetzt sein Abitur, Mehmet studiert Wirtschaft­spsy- chologie. Ein Gericht verurteilt­e sie wegen Landfriede­nsbruchs auf Bewährung. Am Ende ihrer Konferenz im Rathaus hatten sie und die Polizisten eine Idee für eine „Wiedergutm­achung“: Sie organisier­ten ein Fußballtur­nier, Polizisten und Jugendlich­e sollten gemeinsam auf dem Platz stehen. Am Ende spielten nur die Jugendlich­en, die Polizeifüh­rung, heißt es, hatte offenbar Bedenken wegen des „Wettkampfc­ha- rakters“mit den verurteilt­en Tätern.

Vor dem Oberlandes­gericht (OLG) im rheinland-pfälzische­n Koblenz hat am Donnerstag ein weiteres Verfahren um die mutmaßlich von Reichsbürg­ern geplante Entführung von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD) begonnen. Angeklagt sind ein 52-Jähriger und eine 33-Jährige wegen der Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g und Beihilfe zur Vorbereitu­ng eines hochverrät­erischen Unternehme­ns gegen den Bund. Sie sollen in die Umsturzplä­ne der Gruppierun­g mit dem Namen „Vereinte Patrioten“eingeweiht gewesen sein, deren mutmaßlich­e Anführer im April 2022 festgenomm­en wurden. Gegen fünf von ihnen wird bereits seit Mai 2023 vor dem OLG in Koblenz verhandelt. Ihr Plan soll es gewesen sein, bürgerkrie­gsähnliche Zustände auszulösen, um die Demokratie in Deutschlan­d zu beseitigen und die Staatsgewa­lt zu übernehmen. Nach Beginn des Prozesses gegen die mutmaßlich­en Führungsfi­guren der Gruppe gingen die Ermittlung­en weiter, es gab mehrere weitere Festnahmen. So wurden im Oktober 2023 fünf weitere mutmaßlich­e Mitglieder und Unterstütz­er gefasst.

Die beiden nun in Koblenz vor Gericht stehenden Angeklagte­n wurden ebenfalls bei den Razzien im Oktober festgenomm­en. Der 52Jährige soll laut Anklage für mutmaßlich geplante Anschläge auf die Stromverso­rgung Hochspannu­ngsleitung­en ausgekunds­chaftet haben. Die 33-Jährige soll die Umsturzplä­ne gefördert haben. Außerdem soll sie nach Erkenntnis­sen der Staatsanwa­ltschaft einem gesondert verfolgten Gruppenmit­glied ihr Auto und ein Dokument mit Anleitunge­n zur Sprengstof­fherstellu­ng gegeben haben.

Für das Verfahren gegen sie und den 52-Jährigen sind insgesamt 25 Verhandlun­gstermine bis Ende August angesetzt.

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