Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Klartext – Leser schreiben ihre Meinung Das vernachlässigte Bildungswesen
Ein Leser schreibt zum Gleitzeitvorschlag unter anderem:
Ich bin jetzt 77 Jahre alt, Diplompädagoge und blicke auf eine 38-jährige Berufserfahrung zurück. Als ich das gelesen habe: „Gleitzeit an Thüringer Gymnasien?“, dachte ich, ich sei im falschen Film. Mit der „Gleitzeit-theorie“versucht man, wenn auch erst als Versuch, Löcher eines vernachlässigten Bildungswesens zu stopfen, indem man es den Schülern schön gemütlich macht. Interessanterweise geschieht das in dem Bundesland, in dem der Ministerpräsident ganz bildungsbewusst die Rechtschreibung zur Nebensache erklärt hat. Gleitzeit bedeutet in der Organisation, dass es eine verpflichtende Kernzeit sowie jeweils eine vor- beziehungsweise nachgelagerte, frei verfügbare Zeit geben muss. Was soll in den jeweiligen Zeiten passieren? Realisiert der Lehrer dann in der Kernzeit, also wenn alle Schüler zur Anwesenheit verpflichtet sind, seinen laut Stundentafel vorgesehenen Lehrauftrag? Dann ist Gleitzeitunterricht sinnlos, da die beispielsweise vom Thüringer Philologenverband erhoffte Kompensation des Lehrermangels ausfällt. Oder gibt der Lehrer nur Anleitungen für die Erarbeitung des Stoffes im Selbststudium während der frei verfügbaren Zeiten? Dann wäre es aus meiner Sicht noch effektiver, wenn man gleich gut ausgearbeitete Lehrbriefe für das Selbststudium verschickt, und man trifft sich einmal in der Woche zur Auswertung. Das ist natürlich eine Überspitzung meinerseits, hervorgerufen von einem augenscheinlichen Aktionismus, mit dem man versucht irgendetwas im Bildungswesen zu bewegen. Hauptsache, wir bewegen! Dabei könnte ein Lösungsansatz so einfach, wenn auch sehr hart und langwierig sein. Man müsste nur die Anmerkungen der Redaktion auf den sehr zutreffenden Leserbrief des Herrn Berger vom 23. April gründlich und nachdenklich lesen. Dort wird nämlich Finnland als ein Hort guten Unterrichts genannt, der sich einer gemeinsamen pädagogischen Geschichte seit Ddrzeiten erfreut. Das finnische Bildungssystem ist das gleiche, nach gründlichem Studium auf finnische Besonderheiten angepasste, Ddrbildungssystem, welches unsere „Bildungsexperten“nach der Wende selbstgefällig verleugnet haben. Doch die Erfahrungsträger gibt es noch. Ich lege hier vor allem Wert auf den Begriff „System“. In der BRD hatte und hat man ein zerklüftetes Bildungswesen und ein Schulnetz. Ein gut durchorganisiertes geschlossenes Bildungssystem, in dem, länderübergreifend, alle Beteiligten,
vom Kindergarten bis zum Gymnasium gut abgestimmt an einem gemeinsamen Ziel arbeiten, kennt man in der BRD nicht. Wichtige Ressourcen werden damit verschenkt. Es ist eben doch jeder selbst seines Glückes Schmied! Vielleicht hat man in irgendeinem Bundesland den Mut und startet in den Jahrgängen 11 und 12 der Gymnasien mal eine gezielte anonyme Umfrage, warum niemand Lehrer werden möchte beziehungsweise unter welchen Bedingungen sich Abiturienten den Lehrerberuf vorstellen könnten. Ich glaube, man würde sich wundern. Bürokratie oder Bezahlung wären wahrscheinlich nicht die Haupthindernisse. Helmer Wenck, Weimar