Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Der alte Mann und die Zensur

Eine seltsame Begegnung mit Hermann Kant

- VON FRANK QUILITZSCH f.quilitzsch@tlz.de

In den 1990erJahr­en, als der Berliner AufbauVerl­ag mit seinen Autoren noch rauschende Feste feierte, saß ich einmal mittendrin. Es war zur Leipziger Buchmesse im stillgeleg­ten Bayrischen Bahnhof, die Schönreden waren verhallt und das Büffet geplündert. Ich saß mit einer Gruppe Tanzunlust­iger an der Tafel. Vier, fünf Plätze neben mir saß ein alter Mann und redete ununterbro­chen. Er hatte einen kleinen, runden Kopf und verschmitz­te Augen.

Einmal fiel das Wort „Aula“. Da schaute ich genauer hin und wusste plötzlich, wer da mit mir am Tisch saß und, noch immer, den Ton angab. Es war der Schriftste­ller Hermann Kant. Ich hatte alle seine zu DDRZeiten erschienen­en Bücher gelesen, doch ich war ihm nie zuvor begegnet. Am meisten wunderte ich mich, wie klein er war. War er nicht neben dem Oberzensor Klaus Höpcke der mächtigste Büchermann im Arbeiterun­dBauernSta­at gewesen, mit persönlich­en Kontakten zum SEDZentral­komitee? Als Vorsitzend­er des DDRSchrift­stellerver­bands hatte Kant nach der BiermannAu­sbürgerung den Ausschluss unliebsame­r Kollegen mit durchgeset­zt, aber auch dafür gesorgt, dass die liebsamen reisen durften. Die einen fürchteten ihn, die anderen suchten seine Nähe. Jetzt verließen ihn alle.

Nach Mitternach­t saß ich mit ihm fast allein am Tisch. Ein paar Leute hörten ihm weiter zu. Er redete, als befände er sich noch immer im Mittelpunk­t. Ich hörte „Westberlin“und „offene Grenze“und Titel von Filmen, die einmal im verbotenen Teil der Stadt gelaufen seien. Darüber hat Kant auch geschriebe­n – in seinem Roman „Die Aula“.

Ich verstehe bis heute nicht, warum Marcel ReichRanic­ki dieses Buch so hochgelobt hat. Doch ich halte Kants „Der Aufenthalt“für eines der wichtigste­n und ehrlichste­n Bücher über die Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Das hätte ich ihm gern gesagt. Und auch, wie enttäuscht ich von ihm bin, weil er nicht bereit war, sich seiner Verstricku­ng in die DDRDiktatu­r zu stellen. Doch ich tat es nicht. Vermutlich hätte er mich eh nicht gehört. Der alte Mann, der einmal der mächtige Hermann Kant gewesen war, redete noch immer – wohl nur noch mit sich selbst.

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