Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Der alte Mann und die Zensur
Eine seltsame Begegnung mit Hermann Kant
In den 1990erJahren, als der Berliner AufbauVerlag mit seinen Autoren noch rauschende Feste feierte, saß ich einmal mittendrin. Es war zur Leipziger Buchmesse im stillgelegten Bayrischen Bahnhof, die Schönreden waren verhallt und das Büffet geplündert. Ich saß mit einer Gruppe Tanzunlustiger an der Tafel. Vier, fünf Plätze neben mir saß ein alter Mann und redete ununterbrochen. Er hatte einen kleinen, runden Kopf und verschmitzte Augen.
Einmal fiel das Wort „Aula“. Da schaute ich genauer hin und wusste plötzlich, wer da mit mir am Tisch saß und, noch immer, den Ton angab. Es war der Schriftsteller Hermann Kant. Ich hatte alle seine zu DDRZeiten erschienenen Bücher gelesen, doch ich war ihm nie zuvor begegnet. Am meisten wunderte ich mich, wie klein er war. War er nicht neben dem Oberzensor Klaus Höpcke der mächtigste Büchermann im ArbeiterundBauernStaat gewesen, mit persönlichen Kontakten zum SEDZentralkomitee? Als Vorsitzender des DDRSchriftstellerverbands hatte Kant nach der BiermannAusbürgerung den Ausschluss unliebsamer Kollegen mit durchgesetzt, aber auch dafür gesorgt, dass die liebsamen reisen durften. Die einen fürchteten ihn, die anderen suchten seine Nähe. Jetzt verließen ihn alle.
Nach Mitternacht saß ich mit ihm fast allein am Tisch. Ein paar Leute hörten ihm weiter zu. Er redete, als befände er sich noch immer im Mittelpunkt. Ich hörte „Westberlin“und „offene Grenze“und Titel von Filmen, die einmal im verbotenen Teil der Stadt gelaufen seien. Darüber hat Kant auch geschrieben – in seinem Roman „Die Aula“.
Ich verstehe bis heute nicht, warum Marcel ReichRanicki dieses Buch so hochgelobt hat. Doch ich halte Kants „Der Aufenthalt“für eines der wichtigsten und ehrlichsten Bücher über die Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Das hätte ich ihm gern gesagt. Und auch, wie enttäuscht ich von ihm bin, weil er nicht bereit war, sich seiner Verstrickung in die DDRDiktatur zu stellen. Doch ich tat es nicht. Vermutlich hätte er mich eh nicht gehört. Der alte Mann, der einmal der mächtige Hermann Kant gewesen war, redete noch immer – wohl nur noch mit sich selbst.