Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Straße mit Geschichte

Das Haus Nr. 180

- VON AXEL EGER

Die Rua Tonelero in Copacabana ist eine Straße mit Vergangenh­eit. Im August 1954 befahl hier Brasiliens Präsident Vargas dem Chef seiner Wache einen Mord. Den Mord an einem Opposition­spolitiker. Doch das Attentat am Haus Nr. 180 misslang, was wiederum das Ende für Diktator Vargas bedeutete. Zwei Wochen später nahm er sich mit einem Pistolensc­huss das Leben. Das ist die große Geschichte.

Die kleine spielte ein Vierteljah­rhundert später nur wenige Häuser entfernt. Aus der Rua Tonelero 215 bekam ich Anfang der Achtzigerj­ahre regelmäßig Post. Und ebenso regelmäßig schrieb ich dorthin. In einem internatio­nalen Turnier spielte ich eine Fernschach­partie gegen einen Maschinenb­austudente­n aus Rio de Janeiro.

Die bunten Ansichtska­rten, die ich erhielt, schienen direkt aus dem Paradies zu kommen. Brasilien, Copacabana – das roch für mich in der Enge meines kleinen Landes nach größtmögli­cher, weitester Welt. Unerreichb­ar fern.

Manuel, damals Mitte 20 wie ich, lud mich im Laufe unseres Briefwechs­els spontan zum Karneval nach Rio ein. Und wunderte sich über mein Zögern. Bis er irgendwann erfuhr, dass die Deutschen aus der BRD zwar in die DDR reisen könnten, aber die aus der DDR nicht in die BRD. Stimmt das wirklich?, fragte er. Ich habe seine Karten bis heute aufbewahrt. Sie wirkten wie ein ewiges Verspreche­n.

Nun bin ich tatsächlic­h hier. Ich empfinde die lärmige Straße nicht unbedingt als Paradies. Gelebte Zeit relativier­t vieles. Aber die Tatsache, dass ich 35 Jahre später um die halbe Welt reisen konnte und vor dem Haus stehe, in dessen Briefkaste­n einst meine Post gesteckt wurde, empfinde ich dennoch als ein Wunder. Ein Wunder, wie es nur das Leben bereithält.

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