Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Die bunte Büchse der Pandora
Zum Beispiel „Senf“. Das Wort haben wir uns kürzlich notiert. Wie man das eben so macht, um Sachen, die einem gerade und bei den merkwürdigsten Gelegenheiten einfallen, nicht zu vergessen. Der Erbtante zu gratulieren, die Wasserrechnung zu bezahlen oder eben beim nächsten Einkauf Senf zu ordern. Diese Notizen sind eine alte Kulturtechnik und haben die Menschheit vorangebracht. Unsere Urahnen schlugen Runen in Findlinge oder malten ganze Felsenhöhlen aus, um die Fallgrube mit den Mammuten wiederzufinden. Später machte man Knoten in Taschentücher, sandte sich selbst eine Brieftaube oder einen Weckruf aufs Handy. Interessant ist auch, dass aus solchen hingeworfenen Notizen schon große Werke der Weltliteratur entstanden sind. Wir wollen hier nicht übermütig werden, aber Egon Erwin Kisch zum Beispiel, der rasende Reporter, wurde von seinen Kameraden in den Gräben des Ersten Weltkriegs ständig genötigt „Schreib das auf, Kisch!“. Was daraus wurde, weiß man bis heute. Wir dagegen wissen nicht mehr genau, was der „Senf“auf unserem abgerissenen Zeitungsrand sollte. War das wirklich nur eine Erinnerung daran, dass es in unserem Kühlschrank am Mostrich für die Bratwurst fehlte? Oder war es – wir Kolumnisten trauen uns nämlich manchmal selbst nicht und verstricken uns in unseren eigenen Verrätselungen, Verwirrspielen und fragwürdigen Pointen – war also das Memo „Senf“eine denksportliche Herausforderung, die endlich einmal wieder nicht die Würze, sondern die Wurst selbst auf den Speisezettel bringen sollte? In der verwurstelten Haus und Hofhaltung eines Kolumnisten ist einfach alles möglich.
Kommt hinzu, dass wir den Zettel nicht im Küchentrakt, sondern in der Keksdose fanden, in der wir Stichworte, Zitate, skurrile Nachrichten und, immer wieder gern, Zeitungsausrisse aller Art für den gefälligen Gebrauch verwahren. Unter uns, wir nennen das Behältnis mit nassforscher Bescheidenheit „Die Büchse der Pandora“.
Da könnte es durchaus sein, dass wir es in unserem beständigen Eintreten für das Gute & Schöne, das Wahre & Große im Sinn hatten, mal wieder den abscheulichen senffarbenen Sud aus Unflat und Unrat, gehässiger Dummheit und dreister Gehässigkeit vorzuführen, der alltäglich durch die sozialen Medien – von denen gesagt werden muss, dass die dreiste Behauptung „sozial“blanker Etikettenschwindel ist – gespült und gerülpst wird. Wenn dem so war, wenn wir das also wollten, ist es jetzt zu spät, denn diese Kolumne ist an ihren Ende. Na, wenigstens haben wir wieder unseren Senf dazugegeben.