Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Ein Abstieg ist noch kein Untergang
Die Leipziger Buchmesse bewegte sich vier Tage lang zwischen einem Chaos im Kopf und im Verkehr
Es fällt nicht auf, dass viele Menschen Leipzigs Buchmesse am besucherstärksten Tag nicht erreichen. Schneeverwehungen und eingefrorene Weichen legten am Samstag den Zugverkehr lahm. Ewig lange Staus derweil von der Autobahnabfahrt zum Messegelände. Dort drängelt sich das Lesevolk dennoch, durchsetzt mit bunten Cosplayern: verkleideten Jugendlichen, die zur integrierten Manga-Comic-Messe strömen. Zäh fließender Besucherverkehr macht die Buchmesse zu einem Sinnbild der Überforderung.
2635 Aussteller aus 46 Ländern, fünf Prozent mehr als im Vorjahr, sind für den Chef der Leipziger Messe, Martin Buhl-Wagner, „ein erfreulicher Zuwachs.“Buchmesse- Direktor Oliver Zille aber ist am Verkehrschaos-Samstag „ganz froh darüber, dass dieser ,Schneller, Höher, Weiter‘-Hype nicht fortgesetzt wird.“
Am Ende wird er, „trotz massivem Wintereinbruch“, 271 000 Besucher melden, 14 000 weniger als 2017.
Dabei ist Leipzig nur die kleine Schwester von Frankfurt. Sie ist aber groß genug – so wie der deutsche Büchermarkt selbst, auf den jährlich 72 000 Neuerscheinungen drängen. Da braucht es Überlebensstrategien, in der Branche wie auf der Buchmesse, die ja nur zum Teil eine Literaturmesse ist. Ein jeder erlebt seine eigene Messe. Das erschwert den Dialog.
Einige Gespräche drehen sich um den abwesenden Schriftsteller Uwe Tellkamp, der die Angst vor Überfremdung teilt und glaubt, 95 Prozent der Migranten wollten „ins Sozialsystem einwandern“. Suhrkamp, sein Verlag, glaubte, sich vor der Messe distanzieren, auf der Messe aber darüber schweigen zu müssen.
„Der Suhrkamp-Verlag hat seinen Autor verraten“, sagt Monika Maron in Leipzig. Sie ist mit ihrem neuen Roman gekommen, in dem es eine Journalistin mit Angst vor Überfremdung zu tun bekommt. „Munin oder Chaos im Kopf“heißt das Buch. Ein solches Chaos bestimmt die Messe ebenso stark wie jenes im Verkehr.
Eine neue Weltordnung entsteht, sagt der ehemalige Außenminister Joschka Fischer in Halle 3. Die entscheidende Frage dabei sei: „Was wird aus uns?“Fischer stellt sein Buch „Der Abstieg des Westens“vor, dass ein Moderator versehentlich als „Der Untergang des Westens“ankündigt. Mit einem Verweis auf Fußball einigt man sich dann darauf, ein Abstieg sei noch kein Untergang. Wenige Schritte weiter trifft man die Verlage Compact und Antaios. Sie vertreten die politische Rechte, die den Untergang des Abendlandes fürchtet. Dagegen machen Linke am Samstagabend mobil, mit „lautstarken Auseinandersetzungen und kleineren Rangeleien“, meldet die Messe. „Deutschland ist scheiße“ist eine der Parolen. Compact-Chef Jürgen Elsässer hätte dergleichen vor wenigen Jahren noch unterschrieben.
Der Protest wirkt kopflos – fast so wie die Leichen in „Kerkerkind“, Katja Bohnets neuem Thriller. „Köpfe abhacken ist mir eigentlich schon zu komplex“, sagt die Autorin auf der Messe. Ihr liege nicht am möglichst abscheulichsten Thrill, sondern daran, „Gewalt sehr direkt und für Leser glaubwürdig darzustellen.“
Körperliche Gewalt erlebt die Messe nur zwischen Buchdeckeln. Das Chaos im Kopf aber bleibt.