Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Als Maradonow für Weimar spielte
Fußballer aus der Sowjetunion in den DDRKlubs – Frank Willmann widmet sich in einem Buch diesem Stück ostdeutscher Sportgeschichte
Mooodooohr, Mooodooohr!, brüllte es in den 1970er-Jahren aus vielen Kehlen, wenn die Kicker der BSG Motor Weimar im heimischen Sportpark am Lindenberg das Tor des Gegners belagerten. Motor spielte in der zweiten Liga der DDR einen guten Stiefel, die Arbeiter und Bauern Thüringens pilgerten in großer Zahl zu den Heimspielen. Die Spieler der ersten Mannschaft waren allesamt proforma beim Landmaschinenbaukombinat Fortschritt angestellt, als Erbauer fröhlicher Mähdrescher. Die realsozialistische Wirklichkeit sah durchaus anders aus.
Die Kicker erblickten nie einen Mähdrescher aus nächster Nähe, und dran herumschrauben mussten sie erst recht nicht. Motor kickte gemütlich in der zweiten Liga, dafür wurden die Spieler berappt. Der Westen nannte sie verbittert Staatsamateure. Aber die Spieler waren Chefs in den Weimarer Discos und wussten, wo der Krimsekt floss.
Ich war ein Kind der seltsamen Diktatur von Dachdeckern und Bauernlümmeln und spielte anfangs bei Motor, um später bei wichtigen Klubs wie Post Weimar, Traktor Kromsdorf oder Empor Weimar zu brillieren. Motors Fußballspiele auf dem Lindenberg waren Volksfeste. Bratwurstdüfte schwängerten die Luft und wetteiferten mit feinen Bockwurstaromen. Die Vereinskneipe unter der Holztribüne platzte aus allen Nähten, Ehringsdorfer Hell und rote Brause flossen in Strömen.
Der Fußballplatz war Treffpunkt und Meckerecke. Die kleinen Leute ließen die Seele baumeln, man nölte über Versorgungsengpässe und ließ nach dem vierten Bier auch mal die Fäuste zärtlich kreisen. Wir Jungs bolzten auf einem Nebenplatz und nahmen die ersten Mädchen in Augenschein. Das Idol aller Weimarer Fußballfans hieß Gisbert Job. Er war Weimars Mannschaftskapitän, spielte im Mittelfeld und dachte das Spiel. Er bediente den wilden Weimarer Stürmer Wolfgang Dummer mit Traumpässen, die jener lauffreudige Blitz kraftvoll in gegnerische Tormaschen drosch.
Häufig bediente er auch sowjetische Gastspieler, in Weimar der Einfachheit halber Russen genannt. Weimar war Garnisonsstadt, der Trägerbetrieb der BSG Motor Weimar, das Landmaschinenbaukombinat, pflegte gute Kontakte zu den Freunden, wie man in der DDR offiziell die Sowjetbürger nannte. Sie kamen aus Russland, der Ukraine und den asiatischen Sowjetrepubliken.
Der positive Kontakt zu den Besatzern befruchtete Motor, so gab es von 1976 bis 1984 einen stetigen Nachschub an Spitzenspielern aus der Sowjetunion. Das Thüringer Volk verteilte schnell klangvolle Spitznamen: Dawidow wurde zu Maradonow und Alijew zu Ali. Alimäßig wurde es zuweilen schwierig, da der Stürmer Aschmann, genannt Ascher, von manchem Motorfan wegen seines recht dunklen Teints ebenfalls Ali gerufen wurde. Die einfache Lösung lautete fortan: Ali 1 und Ali 2.
Sowjetische Vereine und die sowjetische Nationalmannschaft standen normalerweise ganz weit unten in der Gunst der Fußballfreunde in der DDR. Jeder Fan hatte einen Bundesligaverein als Zweitverein. Ich kenne wirklich keinen, der sich in den 1970ern oder 1980ern für den sowjetischen Fußball interessiert hätte.
Offizielle Spiele gegen die Nationalmannschaft der Sowjetunion oder Spiele im Europapokal wurden von den staatstreuen Medien der DDR mit einer besonderen Bedeutung belegt. Diese Bruderduelle wurden propagandistisch ausgeschlachtet, was in den Köpfen der DDRFußballfans einen schalen Nachgeschmack hinterließ und nur bei harten Parteikadern zu Freudentänzen führte.
Dann gab es in der DDR noch den SASK Elstal, einen Fußballklub im heutigen Landkreis Havelland (Brandenburg). Die Fußballer waren fast ausschließlich ehemalige Spieler von ZSKA Moskau, ZSKA hieß die sowjetische Armeesportvereinigung. Der Klub absolvierte Freundschaftsspiele in der DDR, aber nie in Meisterschaften oder Punktspielbetriebe integriert. Ab den 1970ern verlieh SASK ausländische Spieler im größeren Stil an Zweitligavereine.
Für die höchste Spielklasse des DFV (Deutscher FußballVerband) wurden ausländische Spieler nie zugelassen. Es wechselte auch kein DDR-Fußballer in die Sowjetunion; hier hörte die viel beschworene (und letztlich verordnete) Bruderschaft auf.
Spieler aus der ehemaligen Sowjetunion zog es erst nach der Wende nach Deutschland, auch in den Osten. Zwischen 1993 und 1995 hütete die Spartak-Legende Stanislaw Tschertschessow das Tor bei den Dynamos von Dresden. Heute betreut er die russische Sbornaja.
Das deutsch-sowjetische Fußballkapitel wurde von offizieller Seite als eine Erfolgsgeschichte verkauft. Die Wirklichkeit hinter der Propaganda sah, wie so oft in der DDR, anders aus: Private Zusammentreffen gab es nur sehr wenige, die kickenden Sowjetsoldaten im Offiziersrang blieben immer Fremde in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ), den vielen Millionen einfachen Soldaten wurde der Kontakt zur Bevölkerung verwehrt.
Die Weimarer Bürger verloren durch das fußballerische Engagement der Sowjetsoldaten bei Motor ein wenig die Furcht vor den Russen. Die sowjetischen Besatzer waren ungeliebt, es kursierten wilde Gerüchte von Vergewaltigungen, obzwar der einfache Soldat während seiner dreijährigen Stationierung in der DDR die Kaserne nie zum Ausgang verlassen durfte. Die Bedingungen für die Soldaten der ruhmreichen Sowjetarmee waren unmenschlich, Selbstmorde und Fahnenflucht nicht selten die Folge des harten Kasernenlebens.
Ein glückliches Bild vom Leben der sowjetischen Soldaten wird durch die sowjetischen Fußballer in der zweiten DDRLiga vermittelt. Offiziell als Armeeangehörige stationiert, durften sie über den grünen Rasen tollen. Sie waren allesamt Offiziere, die sich für einen langen Dienst verpflichtet hatten. Viele von ihnen spielten ursprünglich bei legendären sowjetischen Klubs in der obersten Spielklasse der Sowjetunion. In der zweiten DDR-Liga durften bis zu drei ausländische Spieler pro Match auflaufen.
Die Russen erlebte ich erstmals am 7. November 1976 beim 5:0-Sieg gegen Motor Veilsdorf. Aubakirow schoss gleich drei Tore, neben ihm stürmte Alijew. Motor vermeldete vier Neuzugänge, die ersten Russen im Motordress waren Aubakirow, Alijew, Abdulgalimow und Chan. Leider traten sie nur sehr unregelmäßig auf, Aubakirow verschwand relativ schnell vom Rasen. Der Grund für sein Entschwinden war nie zu erfahren.
Es gaben sich später noch einige andere die Ehre, der bekannteste und populärste war Stepan Marusynez. Tiefe Gefühle hegten wir für „die Walze“Somin; Namen wie Koslow, Dawidow, Jakowlew oder Janez bringen meine verschüttete Motorseele zum Blinken. Insgesamt waren es über die Jahre 15 Mann.
Private Dinge als Militärgeheimnisse
Marusynez kickte von 1976 bis 1981 bei Motor. Er organisierte alles, was die Gastspieler betraf, und fungierte als Dolmetscher. Im Pokalspiel gegen den 1. FC Magdeburg im Jahr 1979 sollte er Torjäger Joachim Streich bewachen, dem trotzdem alle vier Treffer zum 0:4-Endstand gelangen. Marusynez arbeitete Anfang der 2000er lange für Bayer Leverkusen in der Betreuung osteuropäischer Profis. Der gebürtige Ukrainer starb 2016 in Leverkusen. In den Zeitungen tauchte er mal als Marussinez auf, dann als Marrusinec, Marushinez oder Marusinez. Die jeweilige Schreibweise blieb der Fantasie des Journalisten überlassen. Und fütterte unsere Fantasie. So etwas wie Homestorys sowjetischer Fußballer gab es in der gleichgeschalteten Propagandapresse der DDR natürlich nicht. Private Dinge waren Militärgeheimnisse.
Ich hatte über den lokalen Russischklub Kontakt zu Offizieren; doch die Treffen waren langweilige Aufführungen. Wir trugen Gedichte oder Lieder auf Russisch vor, danach lief entweder ein russisches Märchen oder ein sowjetischer Kriegsfilm. Dann sangen wir: „Partisanen durch die Steppe ziehen“. Meist bekamen wir von den Sowjetoffizieren Lenin-Abzeichen geschenkt und schenkten ihnen Ernst-Thälmann-Abzeichen.
Die jeweiligen blechernen Größten Führer aller Zeiten wechselten den Besitzer. Getragen haben wir Lenin natürlich nie, sie landeten bei der nächsten Gelegenheit im Mülleimer! Alles Russische war inoffiziell bei der Jugend verpönt. Niemand konnte mit einem Lenin am Revers Pluspunkte bei den Mädchen machen. Hier musste ein Victory-Zeichen her, mindestens der Aufnäher eines Bundesligavereins.
Ich sammelte Fußballabzeichen und tauschte mit Offizieren oder ihren Kindern, wann immer es möglich war, Abzeichen. Kamerad Snatschok! Die Kasernen waren mit hohen Mauern und Sichtblenden aus Holz verkleidet, doch es gab Löcher, es gibt immer einen Weg. Ich schlüpfte durch und traf mich auf der anderen Seite heimlich mit Jungs. Wir durften bei unseren heimlichen Tauschgeschäften nicht gesehen werden, weder von übereifrigen DDR-Bürgern noch von sowjetischen Wachsoldaten. Wieder auf der anderen Seite pfiff ich mir eins und brüllte mit den anderen Jungs meiner Schule: „Ras, dwa, tri – Russen werden wir nie!“Selbstverständlich immer nur dann, wenn die Russischlehrerin oder der Staatsbürgerkundelehrer nicht hinhörten.
Viel beschworene Bruderschaft