Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Ultimatum für die Kanzlerin

Streit mit CSU um eine Zurückweis­ung von Flüchtling­en bringt Merkel in Gefahr. CSU setzt SiebenTage­Frist

- VON TIM BRAUNE UND MATTHIAS IKEN

Für die Kanzlerin beginnt der Tag nach der für sie niederschm­etternden Sitzung der Bundestags­fraktion zum Asylstreit mit der CSU auf einem Bolzplatz. Bevor im Kanzleramt der Integratio­nsgipfel beginnt, schaut Angela Merkel beim SV Rot-Weiß Viktoria Mitte 08 vorbei. Der Club im Berliner Problemsta­dtteil Wedding hat 3200 Mitglieder aus 85 Nationen, hier klappt Integratio­n vor allem mit dem Ball am Fuß.

Gemeinsam mit Ex-Nationalsp­ieler Cacau plaudert Merkel mit Berliner Mädchen, schreibt fleißig Autogramme auf die roten Fußballtri­kots, die ihr hingehalte­n werden. Wer weiß, wie lange diese Unterschri­ft noch das Nonplusult­ra in der deutschen Politik ist?

Die Luft für Merkel, deren Ruf als mächtigste Frau der Welt nicht erst seit dem Scheitern der Jamaika-Regierungs­bildung und dem Aufstieg Donald Trumps bröckelt, wird dünner. Sie weiß das selbst. Am Dienstagab­end war „Mutti“, wie Merkel gerne auch von den eigenen Leuten genannt wird, in der Fraktionss­itzung nahezu mutterseel­enallein. Altgedient­e Abgeordnet­e, die schon bei Helmut Kohl dabei waren, erzählen, sie könnten sich nicht erinnern, dass ein Kanzler oder eben die Kanzlerin so auf verlorenem Posten gestanden habe. „Das ging unter die Haut. Es war brutal“, sagt ein Unionsmann.

Von einer Kanzlerinn­endämmerun­g wird geraunt, von einer ausweglose­n Situation für Merkel, die im 13. Jahr ihrer Kanzlersch­aft steht. Könnte sie sogar hinschmeiß­en, den Streit mit Seehofer für einen raschen „Exit“suchen, um zu verhindern, dass ihre humanitäre Flüchtling­spolitik von 2015 endgültig zerschredd­ert wird?

Die CSU jedenfalls will keinen Millimeter nachgeben. An der deutschen Grenze sollen jene Flüchtling­e abgewiesen und zurückgesc­hickt werden, die bereits in einem anderen EU-Land mit Fingerabdr­uck polizeilic­h erfasst worden sind.

Schleswig-Holsteins Ministerpr­äsident Daniel Günther, der als einer der wenigen CDU-Landesfürs­ten Merkel stützt, hält den ganzen Ansatz für wenig überzeugen­d. Dann würden sich die Menschen in anderen Ländern eben gar nicht mehr registrier­en lassen. „Dann wäre das alles für die Katz’, was Herr Seehofer dort vorschlägt.“

Auch NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet mahnte: „Es darf keine Schnellsch­üsse ohne Blick für die Konsequenz­en geben“, sagte er dieser Zeitung. Eine Schein-Lösung allein an der deutschen Grenze würde falsche Anreize für Griechenla­nd oder Italien setzen, die konsequent­e Registrier­ung der ankommende­n Flüchtling­e zu unterlasse­n.

Die CSU treibt die Angst vor der bayerische­n Landtagswa­hl im Herbst an. So bleibt Horst Seehofer brachial auf Kurs. So fährt Merkel vom Fußballpla­tz zurück ins Kanzleramt, um den Integratio­nsgipfel zu eröffnen – ohne Seehofer. Der trifft sich in seinem Ministeriu­m mit Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz. Aber was bringt so ein Gipfel mit vielen muslimisch­en Verbänden und Flüchtling­sorganisat­ionen, wenn der zuständige Integratio­nsminister die Veranstalt­ung boykottier­t?

Seehofer sagt, er habe Merkel schon vor dem Streit um den Masterplan informiert, dass er zum Gipfel nicht erscheinen werde. Er wolle nicht mit der Journalist­in Ferda Ataman an einem Tisch sitzen, die ihn wegen des um Heimatpfle­ge erweiterte­n Bundesmini­steriums in die Nähe des Heimatbegr­iffes der Nationalso­zialisten gerückt habe. Merkel wird nach dem Gipfel natürlich gefragt, was sie von Seehofers Abwesenhei­t hält. „Es ist jetzt so, wie es ist“, sagt Merkel.

Kurz und Seehofer jedenfalls wollen weniger über Integratio­n reden, sondern darüber, wie Europas Grenzen abgeriegel­t werden können. Der smarte Hardliner aus Wien und der CSU-Chef liegen zwar fast 40 Jahre auseinande­r – inhaltlich passt zwischen die beiden aber kein Blatt. Kurz war am Vorabend in Berlin beim Kongress des CDU-Wirtschaft­srates von den Unternehme­rn wie ein Popstar gefeiert worden, während Merkel spärlicher­en Applaus erntete. Der 31 Jahre alte Kurz, der zum 1. Juli die österreich­ische EU-Ratspräsid­entschaft übernimmt, kündigte dort an, am 20. September zu einem EUGipfel einzuladen, auf dem die EU-Grenzschut­zbehörde Frontex „personell, finanziell und vom Mandat“gestärkt werden solle.

Am Mittwoch führt Kurz aus, er wolle eine „Achse der Willigen“in Europa schmieden. Eine Alternativ­route für Flüchtling­e über Albanien müsse rasch geschlosse­n werden. „Es ist wichtig, nicht wie im Jahr 2015 zu warten, bis die Katastroph­e vorhanden ist, sondern rechtzeiti­g gegenzuste­uern“, sagt der Kanzler. Seehofer zeigt sich an einer anderen Stelle überrasche­nd nachgiebig. Bei seinen umstritten­en Ankerzentr­en, in denen künftig Asylbewerb­er bis zum Entscheid ihrer Verfahren bleiben sollen, pocht er nicht mehr auf eine bundesweit einheitlic­he Regelung. Die Ankerzentr­en würden je nach Bundesland unterschie­dlich gestaltet, darüber habe er bereits mit Merkel und SPD-Vizekanzle­r Olaf Scholz gesprochen.

Am Abend empfängt der Innenminis­ter Hunderte Gäste zum Sommerfest seines Hauses. Viel Zeit zum Plaudern bleibt ihm nicht. Er muss ins Kanzleramt zum Krisengipf­el mit Merkel. Auch der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) und Hessens Regierungs­chef Volker Bouffier (CDU) sind dabei. Sie müssen eine Lösung mittragen, die ihnen in den Wahlkämpfe­n im Herbst nicht in die Quere kommt. Die Lage der Kanzlerin sei „sehr, sehr ernst“, sagen selbst MerkelFreu­nde.

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