Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Mahnmal einer Katastroph­e

Vor einem Jahr starben 72 Menschen beim Brand des Londoner Grenfell Towers

- VON JOCHEN WITTMANN

Es ist ein düsteres Mahnmal, das da in den Himmel über London ragt. In der nordwestli­chen Ecke, der Armenecke des „Königliche­n Stadtbezir­ks von Kensington und Chelsea“, steht die Ruine des Grenfell Towers: ein 74 Meter hohes Grabmal, das bis zum obersten Stockwerk ausgebrann­t ist. Die schwarz verrußte Außenhaut: zerfetzt, zerbeult. Voller Löcher dort, wo die Fenstersch­eiben barsten. Jetzt, ein Jahr nach der Katastroph­e, hat man den Bau eingerüste­t und mit Planen verdeckt. Aber jeder weiß: Hier steht der Turm der Schande.Und solange die juristisch­e Aufarbeitu­ng nicht abgeschlos­sen ist, bleibt der Turm stehen – erst dann wird er vermutlich abgerissen.

„Wenn ihr sehen wollt, wie die Armen sterben“, beginnt ein Gedicht des Lyrikers Ben Okri, „kommt und seht den Grenfell Tower.“72 Menschen, so die offizielle Angabe, sind hier gestorben. Großbritan­nien erlebte die größte Feuerkatas­trophe der Nachkriegs­zeit, als in der Nacht zum 14. Juni 2017 ein explodiere­nder Kühlschran­k einen Brand in einer Wohnung im vierten Stock des Grenfell Towers auslöste. Binnen Minuten breiteten sich die Flammen über die brennbare Außenfassa­de des Wohnblocks in die oberen Stockwerke aus. Für viele gab es kein Entkommen aus der Feuerfalle.

Das Schicksal der Opfer und der Überlebend­en wühlte die britische Nation mehr auf als die vier Terroransc­hläge in den drei Monaten davor. Grenfell ist eine offene Wunde.

Wie konnte es dazu kommen, dass in einem der reichsten Länder der Welt und in einem der wohlhabend­sten Stadtbezir­ke Londons ein solches Unglück passieren konnte? War es vermeidbar?

Warum hat niemand auf die Anwohner gehört, die seit Jahren über den mangelnden Brandschut­z klagten? Wer kam auf die Idee, einen Betonbau mit einer Fassade zu umhüllen, welche als Brandbesch­leuniger diente?

Auf diese Fragen versucht jetzt eine Untersuchu­ngskommiss­ion, eine Antwort zu finden. Es ist eine Untersuchu­ng epischen Ausmaßes, nicht nur, weil 562 Teilnehmer Gehör finden wollen oder sollen – Hunderte Überlebend­e und ihre Angehörige­n.

Mohammed Hakim berichtete, wie fünf Mitglieder seiner Familie ihr Leben verloren. Weil sein 82 Jahre alter Vater nach zwei Schlaganfä­llen nicht mehr laufen konnte, blieben seine Frau und drei Kinder mit ihm in der Wohnung, bis es zu spät war, sich zu retten. „Mein Vater hätte nicht im 17. Stock leben sollen“, sagte Hakim, „wir haben uns immer beschwert, aber nichts geschah.“

Schmerz und Wut wurden auch spürbar, als Hisam Choucair über das Schicksal von fünf Verwandten sprach: „Wir mussten über Stunden mit ansehen, wie sie schließlic­h in den Flammen umkamen. Ich muss damit leben, dass meine Familie auseinande­rgerissen wurde. Es ist keine Tragödie, es ist eine Gräueltat.“

„Wir mussten über Stunden mit ansehen, wie sie schließlic­h in den Flammen umkamen.“ Hisam Choucair

Wie Choucair sehen viele Überlebend­e die Katastroph­e von Grenfell als hausgemach­t. Sie wollen Verantwort­liche dafür zur Rechenscha­ft gezogen sehen, wie zum Beispiel die zuständige­n Beamten in der Kommunalve­rwaltung, die einschlägi­ge Warnungen über Mängel beim Brandschut­z vorher ignorierte­n.

Tatsächlic­h lief bei dem Inferno schief, was nur schieflauf­en konnte. Die Brandschut­zexpertin Barbara Lane listete vor der Untersuchu­ngskommiss­ion die Fehler auf: Die Fassadenve­rkleidung aus Aluminium und dem Kunststoff Polyethyle­n habe den Brand rasant beschleuni­gt. Das Rauchabzug­ssystem habe nicht funktionie­rt und die Aufzüge hätten versagt. Brandschut­ztüren hätten gefehlt oder nicht richtig geschlosse­n.

Ein Sprinklers­ystem gab es nicht, ebenso wenig wie einen zweiten Fluchtweg. Der Anwalt der Opfer, Danny Friedman, brachte es auf den Punkt, als er sagte: „Davon kam, wer pures Glück hatte.“Und nicht, weil es einen angemessen­en Brandschut­z gab.

 ??  ?? Zum Jahrestag wurde der Turm verhüllt. Oben hängt ein Banner mit der Aufschrift „Grenfell – Forever in our Hearts“(„Grenfell – Für immer in unseren Herzen“). Foto: ddp
Zum Jahrestag wurde der Turm verhüllt. Oben hängt ein Banner mit der Aufschrift „Grenfell – Forever in our Hearts“(„Grenfell – Für immer in unseren Herzen“). Foto: ddp
 ??  ?? Ein ausgebrann­tes Schlafzimm­er im . Stock des Grenfell Towers. Fotos: Reuters, dpa
Ein ausgebrann­tes Schlafzimm­er im . Stock des Grenfell Towers. Fotos: Reuters, dpa
 ??  ?? Am . Juni  steigt Rauch aus dem Wohnturm in Kensington.
Am . Juni  steigt Rauch aus dem Wohnturm in Kensington.

Newspapers in German

Newspapers from Germany