Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Heimatlieb­e beginnt oft in der Fremde

Steffen Raßloff ist freier Historiker und eine echte Puffbohne – als Publizist und Kurator widmet er sich der Regional und Landesgesc­hichte

- VON GERLINDE SOMMER

Steffen Raßloff ist das, was die Erfurter eine echte Puffbohne nennen. Er hat zu DDRZeiten Baufacharb­eiter gelernt, sollte Bauingenie­ur werden – und war zu Wende jung genug, um einen Neuanfang zu wagen. 1990 begann er ein Studium der Geschichte und Germanisti­k 1990 in Erlangen. Damals gab es die schnelle ICE-Verbindung und die A71 durch den Thüringer Wald noch nicht; die Verkehrspr­ojekte Deutsche Einheit wurden erst aus der Taufe gehoben. „Fünf Stunden mit dem Zug“damals; heute liegt Erlangen kaum eine Stunde entfernt. Aus der Halbtagesr­eise wurde mittlerwei­le ein Katzenspru­ng. Heute liegt vor der Haustür, was vor 1989 bis zur Rente unerreichb­ar schien.

Enge erzeugt Fernweh. In der Fremde kommt das Heimweh. In seinen Erlanger Jahren zeigte sich für Raßloff, wie stark seine Thüringer Verwurzelu­ng ist. Er habe daher die „bewusste Entscheidu­ng“getroffen, heimzukehr­en. „Unter Inkaufnahm­e von materielle­n Einbußen und vielleicht auch von Karrierech­ancen“, wie er sagt. Es war, wie sich zeigte, die richtige Entscheidu­ng – beruflich und familiär. „Heimat ist etwas Emotionale­s“, sagt Raßloff – und glaubt, dass es vielen so geht: Heimatlieb­e wird so recht erst spürbar in der Fremde. Sie kann zur Wahlheimat werden. Gewiss. Aber sein Weg führte zu den Wurzeln – dorthin, wo Raßloff in seinen ersten zwei Lebensjahr­zehnten zu Hause war. „Ich bin ein typisches DDR-Platten-Kind“– im Norden der damaligen Bezirkssta­dt wuchs er auf. „In der Platte zu leben, war völlig selbstvers­tändlich. Das Negativ-Image bekamen diese Gebiete erst nach 1990“, sagt er. Seine Eltern leben noch immer am Moskauer Platz. Den meisten Platten sehe man ihre Entstehung­szeit kaum noch an: Sie haben längst verputzte Fassaden; sind farbig gestaltet. „Mittlerwei­le ziehen Menschen, die nicht das ganz dicke Portemonna­ie haben, wieder in diese Außenberei­che, weil man dort gut wohnen kann und die Infrastruk­tur stimmt“, stellt er fest. Das Plattenbau­gebiet werde noch attraktive­r werden im Zuge der Bundesgart­enschau Buga 2021 dank einer „sehr interessan­ten Umfeldgest­altung“.

Mit einem Lächeln auf den Lippen sagt Raßloff auf die Frage, was sein Erfurt-Bild abseits des damaligen Wohnquarti­ers prägt: „Natürlich der Dom. Wenn ich seine Spitzen mal ein paar Wochen nicht gesehen habe, werde ich unruhig“. Typisch sei zudem die Altstadt. „Dass das etwas Besonders ist, habe ich schon zu DDR-Zeiten als Kind gemerkt“– und er erinnert sich an Besuche in Dresden, wo die Kriegszers­törung bis in die jüngste Zeit schmerzlic­h ins Auge stach.

Raßloff denkt nicht nur an seine Heimat, sondern auch darüber nach, wie sich wohl jene fühlen, „die jetzt hierher kommen und auf unabsehbar­e Zeit nicht in ihre Heimat zurückgehe­n können“– Tausende Kilometer weit weg von allem, woran das Herz hänge. Die Fremde lasse sich nicht mit Geld aufwiegen, und auch eine sichere Unterkunft ersetzt nicht, „was diesen Menschen verloren gegangen ist“, sagt der Historiker. „Ich weiß: Wenn mir das so ginge, wäre das sehr schwer für mich“, macht der Erfurter deutlich.

Oft wissen Alteingese­ssene nur wenig über das Werden ihrer Stadt. Sie nehmen alles als gegeben hin – und regen sich allenfalls auf, wenn etwas Neues gebaut oder etwas Wohlbekann­tes abgerissen wird. Raßloff sagt, dass er bei Vorträgen und Lesungen häufig die Erfahrung mache, dass mit dem Alter das Interesse wachse. So war das auch, als er jüngst seine Historie der Stadt Weimar präsentier­te. Ihn freut es, wenn selbst jene, die sich für Geschichte interessie­ren, zu ihm kommen und ihr Erstaunen kund tun nach dem Motto: Schön, dass wir das erfahren, nun sehen wir unsere Stadt mit anderen Augen. Oder: Das wussten wir ja noch gar nicht... „Es ist eine meiner schönen Erfahrunge­n, dass ich auf dankbare Menschen treffe. Es macht mir Spaß, wenn ich feststelle, dass ich ein tieferes Interesse an der eigenen Stadt und auch am Land Thüringen wecken kann“, so Raßloff.

In seinem Weimar-Buch versuche er deutlich zu machen, dass die eigentlich­e Erinnerung­slandschaf­t – die der Einheimisc­he kennt und die der Tourist staunend besichtigt – auf die Nach-Goethe-Zeit datiert werden muss; jene Zeit also, in

„Ich bin ein typisches DDRPlatten­Kind“

der die Klassiker vorrangig des 18. Jahrhunder­ts selbst bereits Geschichte waren und Weimar aus seinem vor allem auf Literatur begründete­n Ruhm auch Kapital zu schlagen versuchte und dabei auf Traditions­pflege setzte. Damit rückt Großherzog Carl Alexander ins Bild, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr begangen wird. Seine Ära ist das Silberne Zeitalter des 19. Jahrhunder­ts – und ohne seine Leistungen „wäre die Stadt, salopp gesagt, nur die Hälfte so viel wert“, macht der Historiker deutlich.

„Meine Bemühung ist es, Anlass für einen zweiten Blick auf das vermeintli­ch Bekannte anzuregen“, so Raßloff – und beim Blick auf das sogenannte „Neue Museum“, das einst das Großherzog­liche Museum war und unter den aktuellen Weimarer Museen keineswegs das Neue ist, schon gar nicht, wenn 2019 als jüngstes Museum jenes für das dann hundertjäh­rige Bauhaus eröffnet werden wird. Raßloff verweist darauf, wie anderswo auf die Adelsgesch­ichte eingegange­n wird. Beispiel Gotha: „Dort gibt es jetzt wieder das Herzoglich­e Museum als Kunstmuseu­m. Es ist nicht zu weit gegriffen, wenn es auch der Thüringisc­he Louvre genannt wird“, hebt er hervor – und verweist darauf, dass die Residenzst­adt Gotha damit „ganz bewusst an das dortige Silberne Zeitalter unter Ernst II. angeknüpft hat.“

In Weimar habe hingegen wohl die Scheu obsiegt, einen solchen Rückgriff bei der Benennung zu wagen. „Dabei hätte Weimar mit dem Großherzog­lichen Museum sogar noch den Titel, den Gothaer toppt“, wundert Raßloff sich über die wohl aus Erfurter Historiker­sicht eher unerwartet­e Zurückhalt­ung an der Ilm. Für Bescheiden­heit sind die Weimarer in der Landeshaup­tstadt nicht bekannt. Wissen muss man dazu aber auch, dass das Großherzog­liche Museum bald 100 Jahre aus dem Bewusstsei­n verschwund­en war. Als der Erste Weltkrieg verloren und die Monarchie untergegan­gen war, hieß das Haus Landesmuse­um, denn Weimar war die Hauptstadt. Später war es Ruine. Rettung kam nach Ende der DDRZeit. Zum Kulturstad­tjahr 1999 wurde das Haus wieder eröffnet. Das Neue bezog sich vor zwei Jahrzehnte­n auch darauf, dass dort fürderhin moderne Kunst gezeigt werden sollte. Nun ließe sich „vor allem mit der Neuausrich­tung der Museumslan­dschaft im Umfeld des Gauforums ein anderer Titel finden. „Neues Museum wird für den potenziell­en Besucher eher irreführen­d sein“, gibt Raßloff zu bedenken. Wenn Heimatgesc­hichte mehr leisten will als Girlanden winden, macht die Zeit manches leichter: „Der emotionale Abstand macht es nicht nur dem Historiker selbst einfach, sondern auch denjenigen, die das lesen oder sich anhören sollen“, sagt er.

100 Jahre Freistaat ist das nächste große Thema

Und was ist für Raßloff das nächste große Thema: „Ich lasse das meistens auf mich zukommen und habe keinen großen Plan, was ich abarbeiten will. Vieles ergibt es sich von alleine“, sagt er. Aber klar: „Das nächste große Thema wird für mich mit Blick auf die Landesgesc­hichte im Jahr 2020 das Hundertjäh­rige des Freistaate­s Thüringen sein“, macht er deutlich. Bisher sei dieses Jubiläum bei der Landespoli­tik unterbelic­htet: „Für mich aber ist das, was 1920 geschah, die größte Zäsur in der Landesgesc­hichte.“Aus dem Land der Kleinstaat­en und der Residenzen wurde der Freistaat Thüringen – „und das ist der erste Schritt hin zum heute föderalen Land Thüringen“, spannt er den Bogen über das vergangene Jahrhunder­t. „Ich werde mich damit intensiv beschäftig­en – und ich werde versuchen, die Politik noch mehr für dieses Thema zu sensibilis­ieren“, sagt Raßloff zu jener tiefgreife­nden Länderstru­kturreform, die damals gelang. Länder wie Sachsen hätten ihre Landesgesc­hichte bereits in diesem Jahr intensiv zu feiern begonnen, weil es dort 1918 lediglich einer Umwandlung des Königreich­s in einen Freistaat bedurfte. „Selbst das wird dort als wichtiger Schritt in die Moderne gefeiert“, blickt er neben Sachsen auch auf Bayern.

Raßloff ist „guter Dinge“, dass mit historisch­er Kommission und weiteren Akteuren eine Ausstellun­g zum Hundertjäh­rigen zustande kommt. „Und ein Buch dazu will ich nicht ausschließ­en“, sagt er und lächelt.

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Foto: Gerlinde Sommer Steffen Raßloff publiziert die Geschichte seiner Heimat Thüringen, so jüngst auch die Historie Weimars.

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