Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Sommergrippe mit Nebenwirkungen
Gurgeln!“fordert K. „Du musst kräftig gurgeln!“
Ich stehe mit dem Rücken zur Balkonbrüstung, mit gerecktem Hals, den Kopf weit in den Nacken gelegt, und quirle Flüssigkeit in meinem Schlund. Grrrrrrrrrr! Grrrrrrrrr!
Der Nachbarhund schlägt an. Er hält mich für eine Taube.
K. glaubt, dass ich den Halbstarken markiere, weil ich nichts gegen meine Erkältung unternehme, sie einfach bloß ausschwitzen will. „Weiter gurgeln! Nur ein bisschen hilft nicht. Du kannst die Kanne ruhig leer machen.“
In der Kanne ist SalbeiSud. Ich speie das Ausgegegurgelte über die Brüstung und nehme einen frischen Schluck. Grrrrrrrrr...!
Ein paar Mal verschlucke ich mich und ringe nach Luft. So ähnlich muss Waterboarding sein. Ich werfe einen Blick zur Seite, von wo mich zwei Augenpaare beobachten.
„Haben wir denn keine HalsschmerzTabletten?“frage ich verzweifelt. „Keine Chemie!“wehrt K. ab. „Pflanzliche Mittel“, pflichtet ihr T. bei. Wenn ihr wüsstet, gurgelt es in meinem Kopf, wie viel Chemie in uns steckt! Der Mensch ist eine biochemische Fabrik. Atmung, Verdauung, Nahrungs und Energietransport, selbst die Funktionen unseres Gehirns basieren auf chemischen Reaktionen. Liebe, Glück und Trauer, Wohlsein und Schmerz – alles nur eine Frage des Austauschs von Molekülen.
Aber sie sorgen sich um mich. Ich soll mich nicht betäuben. Meine Selbstheilungskräfte sollen gestärkt werden – mit Salbei, Thymian, Ingwer und dieser exotischen Flechte, die es in Dropsform in der Apotheke gibt.
„Einmal Irish Moos“, krächze ich.
Die Apothekerin schaut mich mitfühlend an. Ist wohl schon ins Gehirn vorgedrungen, die Erkältung. „Wir haben nur isländisches Moos“, korrigiert sie mich lächelnd. „Kleine oder große Packung?“„Die größte, bitte.“
Seitdem lutsche ich die erdfarbenen Halspastillen, fünf bis zehn Stück pro Stunde. Das ist angenehmer als Gurgeln. Aber es dauert Tage, bis die Halsschmerzen zurückgehen. Tage des Leidens. Und meine Stimme bleibt auch dann noch belegt, abends klinge ich wie Paul Robeson. „Old Man River“, hebe ich zu knarzen an, werde aber sofort unterbrochen.
„Gurgel lieber!“Auf dem Tisch dampft eine neue Kanne Salbei.
Gurgeln habe ich schon als Kind bei meiner Großmutter nicht gemocht, die nur mit Haus und Wiesenmitteln heilte. In der Apotheke wurden lediglich Pflaster und Mullbinden eingekauft. Der Rest kam von der Natur – und aus der Luft. Die Großeltern wohnten nahe der Chemiestadt Bitterfeld. Wenn der Wind von dort kam, atmeten wir Antibiotika in vollen Zügen.