Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Mehr als eine frauenpolitische Maßnahme
Vor 100 Jahren wurde Wahlrecht reformiert – noch immer weniger Politikerinnen als Politiker
Bei der Proklamation der großen Wahlrechtsreform am 12. November 1918 wurde das Frauenwahlrecht festgeschrieben. Der Blick zurück zeigt, dass es nicht nur um eine „frauenpolitische“Errungenschaft geht, sondern um eine Veränderung, die die gesamte Gesellschaft betrifft. Darauf machen die Fraktionen von Linken, SPD und Grünen am heutigen Montag im Landtag aufmerksam – gemeinsam mit dem Landesfrauenrat und Mehr Demokratie Thüringen.
Die Forderung nach Mitbestimmung gab es schon zur Kaiserzeit, doch mit Einführung der Demokratie war klar, dass diese ohne Frauen, die wählen und gewählt werden, unvollständig wäre. Die Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 war die erste, an der Frauen als Wählerinnen teilnahmen und bei der sie auch gewählt wurden.
Diana Lehmann (SPD) betont im TLZ-Gespräch, dass es weiteren Reformbedarf gibt, um die Beteiligung von Frauen in Parteien und Parlamenten zu stärken. Derzeit ist eine rückläufige Entwicklung bei der Anzahl von Politikerinnen zu beobachten.
ERFURT/WEIMAR. 100 Jahre liegt es auf den Tag genau zurück, dass das Frauenwahlrecht in Deutschland festgeschrieben wurde. Im Januar 1919 durften dann erstmals Frauen ihre Stimme abgeben. Und die ersten Worte einer Frau vor der Nationalversammlung in Weimar sorgten für Gelächter: Marie Juchacz begann am 19. Februar 1919 in ihrer Rede mit „Meine Herren und Damen!“(Heiterkeit.) „Es ist das erste Mal, dass eine Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.“
Juchacz wurde 1879 geboren, war Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin. Diana Lehmann ist Jahrgang 1983 – und Sozialdemokratin. Sie zählt zu den Jüngeren im Thüringer Landtag – und ist unter anderem auch für Gleichstellung zuständig. Das vor 100 Jahren nach langen Kämpfen zuvor auf den Weg gebrachte Frauenwahlrecht wertet sie als „einen ganz wesentlichen Schritt, weil damit Frauen erstmals die Möglichkeit hatten, über ihre politische Zukunft auch selber zu entscheiden“. Wahlrecht sei „die grundlegendste Möglichkeit, das Umfeld, in dem wir leben, mitzugestalten", hebt die Thüringerin hervor.
100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts müssen Frauen weiterhin für politische Gleichberechtigung kämpfen, kritisiert Kerstin Wolff, die Leiterin der Forschungsabteilung im Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel. „Die Repräsentanz von Frauen im Parlament, die das Frauenwahlrecht eigentlich ermöglichen sollte, ist ja bis heute nicht gleichberechtigt.“
Der Blick in die Parlamente zeigt, dass es um die Beteiligung der Frauen nicht zum Besten bestellt ist. Bei der Bundestagswahl 2017 ist der Anteil von Frauen im Parlament auf knapp 31 Prozent zurückgegangen. Bei der Wahl 2013 waren 36 Prozent der Abgeordneten weiblich gewesen, so Wolff. Daher sei deutlich, dass alleine das Frauenwahlrecht die Gleichberechtigung nicht durchsetzen könne, so Wolff. „Es braucht dafür ehrlicherweise auch heute noch Druck von der Straße.“
Diana Lehman sieht das Problem nicht nur in den Parlamenten, wobei Thüringen deutschlandweit zu den bestquotierten zählt – also mithin die meisten Frauen unter den Abgeordneten hat. „Aber das hängt vor allem mit dem Frauenanteil der Linken, der Grünen sowie der SPD zusammen.“Dass etwa bei der AfD in den kommenden Landtag kaum Frauen einziehen werden, war jüngst schon an deren Landesliste abzulesen – unter all den Männern findet sich kaum eine Hand voll Frauen.
Das Problem aber beginnt nicht erst bei der Listenaufstellung: „Das fängt ja schon damit an, dass die Frauen geringer vertreten sind in den Parteien“, wobei das von Partei zu Partei sehr unterschiedlich ist. „Wir leben in einer Parteien-Demokratie und die Partizipation an einer Partei ist Voraussetzung dafür, dass jemand gewählt werden kann.“Abgesehen von den Grünen vielleicht, meint Lehmann, hätten es Frauen in der Parteien nach wie vor schwerer, weil „die Strukturen generell sehr männlich
Diana Lehmann, SPD-Landtagsabgeordnete
geprägt sind“, schätzt sie ein. Frauen schlügen Vorurteile entgegen: Den einen werde gesagt, sie seien zu weiblich und daher für das politische Geschäft kaum geeignet. Anderen werde vorgehalten, dass sie wie ein Mann agierten, wenn es etwa um die Durchsetzung von Positionen gehe. „Das ist der Spagat, in dem sich Frauen auch heute oft noch bewegen“, sagt sie.
Diana Lehmann kann sich gut vorstellen, dass bei der Frage „Wie stellen Sie sich einen Politiker vor?“bei den meisten Bürgern vor dem geistigen Auge das Bild eines älteren Mannes im Anzug erscheint – und selten eine Frau, egal ob jung oder alt. „Frauen haben eine geringere Sichtbarkeit in der Gesellschaft, in der Partei sind weniger Frauen als Männer, die für Direktmandate kandidieren“– übrigens nicht nur mit Blick auf Landtage und den Bundestag, sondern auch mit Blick auf Führungspositionen auf Kommunalebene, etwa als Landrat oder Oberbürgermeister. Und die Lösung? Nicht einfach, sagt Lehmann. Es gebe nicht die eine Stellschraube, die verändert werdenmüsse,umFraueninall diesen Positionen auf die Hälfte vom Ganzen zu heben. Eine Möglichkeit könnte ein Vorgehen wie in Frankreich sein, wo Positionen paritätisch besetzt werden müssen. Das würde immerhin zu einer stärkeren Sichtbarkeit der weiblichen Bewerber führen. Allerdings sei die Parité rechtlich schwierig, gibt sie zu bedenken. Das Gute an der Quote: Auch wenn zunächst nach Frauen vor allem deshalb gesucht werde, weil man sie braucht, zeige sich in der Folge, „dass Frauen einfach gut sind“, gibt sie zu bedenken.
Frauen-Forscherin Kerstin Wolff betont, dass die Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren in ihrer historischen Bedeutung nach wie vor nicht hinreichend gewürdigt wird. „Wir feiern nicht nur 100 Jahre Frauenwahlrecht, wir feiern auch 100 Jahre Einführung der Demokratie in Deutschland.“Mit ihrem Einsatz für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht hätten Frauen wesentlich zur Demokratisierung nach Ende des Ersten Weltkriegs beigetragen. Denn die Einführung des Frauenwahlrechts war gleichzeitig das Ende des Ständewahlrechts in Deutschland, das bis dahin auch die demokratischen Rechte der männlichen Wähler beschränkt hatte.
Die beiden Jubiläen, Beginn der Weimarer Republik und Einführung des Frauenwahlrechts, würden in der Regel als getrennt nebeneinanderstehende Ereignisse betrachtet, ist Wolffs Wahrnehmung. „Eigentlich müsste man diese Entwicklungen zusammen erzählen. Aber das findet leider nicht statt.“Der Anteil der FrauenwahlrechtsBewegung am Beginn der Weimarer Republik bleibe oftmals im Dunkeln.
100 Jahre liegt es zurück, dass das Frauenwahlrecht eingeführt wird. Und was wünscht sich Diana Lehmann zu Beginn des zweiten Jahrhunderts, in dem es das Frauenwahlrecht gibt? Der Wunsch klingt bescheiden: „Dass Frauen in der Politik genauso ernst genommen werden wie Männer. Und ich wünsche mir, dass Frauen nicht weiter vor allem im Sozialen Kompetenz zugesprochen wird. Es muss einfach allen klar werden, dass Frauen genauso gut Politik machen können wie Männer – nicht besser – aber genauso gut!“(mit epd)
„Tatsache ist, dass Frauen in der Politik in Gänze noch immer nicht so geschätzt werden wie Männer. Eine paritätische Besetzung würde immerhin zu einer stärkeren Sichtbarkeit führen.“
• Frauenwahlrecht – Wie Frauen Einfluss nehmen konnten“, Veranstaltung der Fraktionen von Rot-Rot-Grün mit dem Landesfrauenrat anlässlich „100 Jahre Frauenwahlrecht“am Montag, 12. November, 15 bis 18 Uhr, im Raum 125/125a im Thüringer Landtag in Erfurt, Jürgen-Fuchs-Straße