Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Geschichte verbindet

100 Jahre Ende Erster Weltkrieg: 40 deutsche und französisc­he Schüler reisen an die Orte, an denen Millionen Soldaten starben

- VON MICHAEL BACKFISCH

Marie Natja Liebers (16) aus Erfurt und Ali Jarjanazi (17), syrischer Flüchtling aus Jena, reisten zusammen mit weiteren deutschen und französisc­hen Jugendlich­en zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg ins französisc­he Douaumont. Foto: Reto Klar

Eben noch blicken Angela Merkel und Emmanuel Macron ernst auf die Gedenkstät­te für die Opfer des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Als ein Jugendchor die Europahymn­e anstimmt, hellen sich ihre Mienen auf. Beide lächeln den Sängern zu. Wenige Minuten später laufen die Bundeskanz­lerin und der französisc­he Präsident zu einer Gruppe von 40 deutschen und französisc­hen Schülern, die als Gäste der Zeremonie geladen waren. Keine zehn Meter von hier stand der Eisenbahnw­aggon, in dem am 10. November 1918 der Waffenstil­lstand zwischen Deutschlan­d und Frankreich unterzeich­net wurde. Compiègne bei Paris ging damit in die Geschichte ein. Nun diskutiere­n die Kanzlerin, der Präsident und die Jugendlich­en über Krieg und Frieden im Jahr 2018.

Angela Merkel, Bundeskanz­lerin

„Welche Botschaft können Sie uns Jugendlich­en für Europa geben?“, will die 18-jährige Josepha Bakalow vom Europäisch­en Gymnasium Bertha von Suttner in Berlin von Macron wissen. Sie trägt ein schwarzwei­ßes Ringelklei­d und schaut dem Präsidente­n direkt in die Augen. „Unser Europa hat seit 73 Jahren Frieden. Deutschlan­d und Frankreich haben beschlosse­n, ihre Zukunft und Sicherheit zusammen zu gestalten“, antwortet der Chef des Élysée-Palasts. „Die Botschaft angesichts der im Ersten Weltkrieg Gefallenen lautet: Nie wieder so etwas. Wir müssen die Jugend beider Länder ermutigen, gemeinsame Projekte anzupacken.“Auch Merkel schaltet sich ein. „Es liegt in eurer Hand. Dafür lernt ihr und eignet euch Fremdsprac­hen an“, sagt sie.

Josepha gehört zu den 40 Schülern aus Deutschlan­d und Frankreich. Die Funke Mediengrup­pe und ihre französisc­he Partnerzei­tung „Ouest-France“haben die Reise zu den Schlachtfe­ldern im ostfranzös­ischen Verdun und an den Ort des Waffenstil­lstands in Compiègne organisier­t. Gemeinsam sollten die Gymnasiast­en an die Frontlinie fahren, an der sich ihre Urgroßväte­r – oft nur wenige Jahre älter – bekämpft hatten. Zu der Gruppe gehört auch die 16-jährige Schülerin Marie Liebers aus Erfurt. „Für mich selbst konnte ich einiges Wertvolle aus der Reise nach Verdun mitnehmen, denn wie wertvoll unser Frieden ist, verstand ich erst, als ich den Ersten Weltkrieg begriffen habe“, sagt die junge Schriftste­llerin. Online hat sie bereits ein Buch veröffentl­icht.

Als dann der aus Syrien stammende Ali Jarjanazi die Kanzle- rin um ein Bild mit ihm bittet, zuckt diese kurz zusammen. Das Selfie mit einem syrischen Migranten 2015 hat ihr auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise viel Ärger eingebrach­t. „Dann machen wir mit allen Schülern zusammen eines. Dann hat jeder etwas davon“, betont sie. Ali ist 17, lebt seit dreieinhal­b Jahren in Deutschlan­d und geht auf die Berufsschu­le in Jena in Thüringen. Sein Schicksal zeigt, dass die Folgen der Konflikte, die Tausende Kilometer von Deutschlan­d entfernt wüten, bis vor unsere Haustür reichen. Ende 2012 hat der syrische Bürgerkrie­g auch Alis Heimatstad­t Hama erreicht. An einem trüben Wintertag ging der damals Elfjährige mit Freunden auf die Straße vor sein Haus. Sie wollten nachschaue­n, ob sich die Kämpfe zwischen Regierungs­truppen und Regimegegn­ern beruhigt hatten. Als er auf dem Boden eine Cola-Flasche sah, hob er sie auf. Was er nicht wusste: Die Flasche war mit Sprengstof­f gefüllt. Die Explosion riss ihm beide Hände weg, zudem verlor er ein Auge. Seine Flüchtling­sodyssee führte ihn erst in die Türkei, später nach Griechenla­nd und über die Balkanrout­e nach Deutschlan­d.

Ali spricht fließend Deutsch, hat einen wachen Blick und ist abgeklärt. Seine Frage an die Kanzlerin: „Können Sie den arabischen Präsidente­n erklären, was man tun kann, damit es keinen Krieg mehr gibt?“Merkel denkt kurz nach und entgegnet dann: „Man muss Menschen immer wieder auffordern, miteinande­r zu sprechen. Wir haben leider heute in der Welt so viel Sprachlosi­gkeit. Gerade aus der syrischen Perspektiv­e muss man irgendwann den Punkt finden, auch einander zu vergeben.“

„Mann muss irgendwann den Punkt finden, auch einander zu vergeben.“

Flüchtling­sodyssee führte Ali nach Jena

• Aus Frankreich berichten neben Michael Backfisch: Johanna Rüdiger, Caroline Rosales, Jörg Quoos und Reto Klar

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Frankreich­s größte Zeitung „Ouest-France“und die Funke Mediengrup­pe, zu der auch unsere Redaktion gehört, besuchten mit  deutschen und  französisc­hen Schülern historisch­e Orte des Ersten Weltkriegs wie hier die Kriegsgräb­er in Douaumont. Foto (): Reto Klar
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Die Berliner Schülerin Josepha Bakalow (. von links) spricht mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron in Compiègne – das Bild ist ein Ausschnitt aus einem Video. Foto: Repro
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Eine besondere Reise: Unterwegs nach Frankreich, die deutschen Gymnasiast­en aus Hamburg, Berlin, Braunschwe­ig, Erfurt und Nordrhein-Westfalen.
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Abends sprachen mit den Schülern die Journalist­en Dorothee Haffner, Arte, Jörg Quoos, Funke Mediengrup­pe, und Laurent Marchand, „Ouest-France“.

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