Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Gut bestuhlt
Vom Statussymbol zur funktionalen Sitzgelegenheit - ein Loblied auf ein unverzichtbares Möbel
Bitte nehmen Sie Platz! Möchtest du dich nicht zu uns setzen? Die Aufforderung zum Platznehmen ist mit Gastfreundschaft und Gemütlichkeit verbunden – und natürlich mit dem dazugehörigen Möbel, dem Stuhl. Zeit also für eine kleine Stilkunde.
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Sprichwörtliches Sitzen
Ob am längeren Hebel oder auf dem hohen Ross, ob am Steuer oder auf heißen Kohlen, ob auf dem Trockenen oder hinter Schloss und Riegel – immer geht es ums Sitzen. Je nach Definition ist das Sitzen Tätigkeit oder Zustand. Und es ist so allgegenwärtig, dass es vielfach in den Sprachgeeinnahmen einfließt. Wer Frau und Kinder hat sitzen lassen, kann seinerseits ganz schön in der Patsche sitzen, und wer erfolgreich etwas aussitzt, sitzt eventuell schon bald in der ersten Reihe. Und da der moderne Mensch, statt sich zu bewegen, immer mehr Zeit auf seinem Gesäß verbringt, ist ein neues Sprichwort hinzugekommen: Mittlerweile heißt es nämlich: „Sitzen ist das neue Rauchen“. Dafür kann der Stuhl selbst allerdings gar nichts.
2
Zu Homers Zeiten
Früher durften sich nur die oberen Zehntausend niederlassen – zumindest auf einem Möbelstück, das wir heute als Stuhl anerkennen würden. Etwa vor 5000 Jahren tauchten die ersten vierbeinigen Stühle mit Rückenlehne auf, diese Throne waren Kaisern, Königen oder religiösen Führern vorbehalten – das einfache Volk hockte sich zum Verschnaufen einfach hin, setzte sich auf den Boden oder auf einfach gezimmerte Hocker. In der Antike, etwa um das fünfte Jahrhundert vor Christus, wurde der sogenannte Klismos entwickelt. Typisch für den Klismos sind eine ausladende Rückenlehne und gebogene Stuhlbeine mit nach außen gerichteten Füßen. Schon bei diesen frühen Stuhlmodellen also spielten ergonomische Aspekte eine Rolle. Dass der Klismos vornehmen Personen oder sogar den Göttern vorbehalten war, kann man vielen Darstellungen aus der griechischen und römischen Kunst entnehmen.
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Vom Zankapfel zum Allerweltsgegenstand
Erst im 16. Jahrhundert hielt der Stuhl Einzug in bürgerliche Haushalte. Aber selbst da war er kein normales, schlichtes Gebrauchsmöbel, das zumindest ist den berühmten Briefen der im 17. Jahrhundert lebenden Madame de Sévigné zu entnehmen. Hier beschreibt die adelige Autorin, welch zentrale Rolle Stühle
im höfischen Zeremoniell – da wurde gestritten, intrigiert und eifrig darum gekämpft, wer das bequemste Fauteuil bekommt. Kaum zu glauben, aber damals waren Stühle Zankäpfel und Statussymbole in einem. Bis ins frühe 19. Jahrhundert repräsentierten Stühle Wohlstand und Macht. Erst mit der industriellen Revolution und den neuen Techniken wurde aus dem handgefertigten Einzelstück ein Massenprodukt – das sich nun jeder leisten konnte. Ein gutes Beispiel hierfür ist der sogenannte Bugholzstuhl, dessen Lehne mit unter Wasserdampf gebogenem Holz versehen ist – eine Technik, die die Brüder Thonet erfunden hatten, und die ihre Firma schon bald berühmt machte. Stühle dieser Art waren nun für alle Schichten erschwinglich, und man fand sie überall: in Privathaushalten wie in Theatern und Restaurants, in Cafés, Krankenhäusern und sogar Kirchen.
4 Neuer Minimalismus
Im 20 Jahrhundert, als der Stuhl an sich nichts Besonderes mehr war, tüftelten die Designer nach immer neuen Erscheinungsformen, zusätzlich kam Kunststoff als weiteres Material ins Spiel. So entwickelte etwa Arne Jacobsen 1951 die sogenannte „Ameise“. Dieser minimalistische, nur mit drei Beinen ausgestattete Stuhl ist so ziemlich das Gegenteil vom üppig ausgepolsterten Sessel – und selbst die Hersteller zweifelten so sehr an dem Möbel, dass sie die Auflage zunächst auf 300 Stück beschränkten. Mit den Jahren avancierte die „Ameise“zu einem der meistverkaufbrauch ten Stühlen der Welt, ebenso wie das 1955 entwickelte Folgemodell „Serie 7“. Auch der 1950 als erster in Serie produzierte Kunststoffstuhl, der „Eames Plastic Chair“, schrieb DesignGeschichte, ebenso wie der „Panton Chair“, der aus einem einzigen, wellenartig geformten Stück Plastik besteht. RetroFans freuen sich auch heute noch über den im Jahr 1953 entworfenen „Tulip Chair“, dessen Aussehen entfernt an eine blühende Tulpe erinnert.
5 Stühle für alle Fälle
Sitzgelegenheiten gibt es wirklich für alle Lebenslagen: Vom Babyhochstuhl über den Friseur- oder Zahnarztstuhl, von der Kirchenbank über den Autositz, vom Bürostuhl bis zum Rollstuhl, vom Melkschemel über den Campingsessel bis zum Schaukelstuhl. (Nur der elektrische Stuhl ist einer, auf den man wirklich gut verzichten kann.) Und schließlich – die ganz normalen Stühle, die ihren Platz in der eigenen Küche, im eigenen Wohnzimmer haben. Familien wählen da sicher robuste Möbel statt des empfindlichen Statement-Stuhls. Praktisch veranlagte Menschen, die zudem gerne Gäste haben, greifen vielleicht zu stapelbaren oder klappfähigen Stühlen, und Vintage-Liebhaber suchen sich auf Flohmärkten Einzelstücke zusammen, lackieren diese eventuell neu und lassen sie mit dem Lieblingsstoff bespannen. Das Schöne ist: Auch wenn die Design- und Wohnmessen jedes Jahr neue Vorschläge herausbringen, muss man heute keinem starren Trend mehr folgen, stilistisch ist alles möglich. Nur einmal Probe sitzen, das sollte man vor dem nächsten Stuhlkauf schon.