Thüringische Landeszeitung (Weimar)
„Bürgerkatechismus“und „Grundrechtsrepublik“
Schlägt man die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 auf und blättert zum „Zweiten Hauptteil“, der mit „Rechte und Pflichten der Deutschen“überschrieben ist, findet sich dort unter Artikel 109: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“. Damit wird der Grundrechtskatalog der neuerarbeiteten Verfassung also eröffnet. Bis zu diesem und weiteren Artikeln war es ein langer und vor allem diskussionsreicher Weg.
Kurz nach Ausbruch der Revolution im November 1918 wird der Staatsrechtler Hugo Preuß vom Rat der Volksbeauftragten unter Friedrich Ebert damit betraut, einen Verfas- sungsentwurf zu erstellen. Der wenig später zur DDP gehörende Politiker legt am 3. Februar 1919 eine erste Fassung vor, die nur einen kleinen Grundrechtskatalog aufweist. Ursprünglich wollte Preuß die Grundrechte gar nicht verankern, da er die Lehren aus der gescheiterten Reichsverfassung von 1849 zog. Damals hatten die Männer in der Frankfurter Paulskirche derart lange über die Grundrechte diskutiert, dass wertvolle Zeit verstrich und sich unterdessen die Gegenrevolution stärkte.
Preuß will vor allem eine effiziente und gestraffte Verfassungsarbeit der Nationalversammlung erreichen. Allerdings drängt ihn Ebert zu einem Minimalkonsens, sodass ein kleiner Grundrechtskatalog aufgenommen wird. Dass der DDP-Mann mit seiner Ausklammerung aber nicht weit kommt, zeigt sich recht bald. Einer der ersten Kritiker war Preuß‘ Parteikollege Friedrich Naumann, der neben den klassischen Freiheitsrechten eine weitere Ergänzung von „Rechten und Pflichten“fordert.
Spätestens bei der Vorstellung des ersten Entwurfs in der Nationalversammlung beziehen dann aber Politiker aller Parteien deutlich Stellung und fordern je nach ihrer politischen Ausrichtung die Aufnahme von weiteren Rechten. Preuß bessert zwar nach, allerdings wird auch die zweite Fassung als nicht akzeptabel abgelehnt. Die Abgeordneten kritisieren dabei weniger die nun 12 Grundrechtsartikel des zweiten Preuß’schen Entwurfs, sondern fordern vielmehr einen noch umfassenderen Grundrechtskatalog. Jede Partei im neugewählten Parlament sieht nun ihre Chance gekommen, ihre Anliegen auch an dieser Stelle unterzubringen. Es wird ein Verfassungsausschuss ins Leben gerufen, der die Verbesserungsvorschläge bündeln und schließlich in konkrete Statuten ausarbeiten soll. Hier wird aber schnell klar, dass ein einheitlicher Grundsatz zwischen den Parteien fehlt. Der Rechtswissenschaftler Christoph Gusy beschreibt das Ganze vielmehr als einen Wettlauf unter den Parteien, die neben den politischen Forderungen auch die „bewährten Institutionen der Vergangenheit“in die Demokratie hinüberretten wollen, um sie „mit Verfassungsschutz zu umgeben“.
So sorgen sich das Zentrum und die DNVP um Religionsfreiheit und die Wahrung kirchlicher Rechte, DVP und DDP treten für die Trennung von Kirche und Staat und die Gewissensfreiheit ein. In wirtschaftlicher Sicht wollen DNVP, DVP und DDP die Garantien der Eigentümer und der Beamtenschaft sichern, den beiden sozialdemokratischen Parteien SPD und USPD geht es vor allem um wirtschaftspolitische Offenheit und soziale Umgestaltung.
Am Ende stehen 56 Artikel fest, die neben den klassischen Freiheitsrechten wie Rechtsgleichheit, Freizügigkeit, Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, Unverletzlichkeit des Wohnraumes und Briefgeheimnis weitere Rechte, aber auch Pflichten enthalten. So sind nicht nur die Wehrund Schulpflicht, sondern auch die Pflicht zur Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeit oder die Pflicht nach „eigenem Können zu den öffentlichen Lasten beizutragen“enthalten.
Selbst die staatliche Sozialversicherung wird in Artikel 161 für jeden Deutschen festgeschrieben. Man will mit all diesen Punkten dem Aufbruch in eine neue und sozial gerechtere Zeit Rechnung tragen.
Dieses ehrenhafte Ziel scheiterte dann aber am Willen der Bevölkerung zur aktiven Mitarbeit. Treffend beschreibt Konrad Beyerle (Zentrum), der an der Abfassung der Grundrechte der Verfassung mitarbeitete, worauf es ankommt: „Republik und Demokratie können auf Dauer nicht leben, wenn sie nicht stets aufs neue aus dem Wollen und Fühlen der Staatsbürger ihre Lebenskraft empfangen.“