Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Koalition auf dem Prüfstand

Union und SPD wollen bis 2021 in der großen Koalition durchhalte­n, doch es mehren sich Zweifel an der Belastbark­eit des Bündnisses

- VON TIM BRAUNE UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

BERLIN. Seit einem Jahr besteht die aktuelle große Koalition in Berlin – und sowohl CDU/CSU als auch SPD betonen, bis 2021 durchzuhal­ten. Doch daran gibt es Zweifel. Vorm Koalitions­gipfel am Donnerstag zeigt sich die Union genervt. Auch die SPD solle die Erfolge der Regierungs­arbeit selbstbewu­sst vertreten, anstatt ständig Debatten über ein frühzeitig­es Ende der Koalition anzuzettel­n, hieß es. (fmg)

BERLIN. Am Berg gilt seit ewigen Zeiten eine Losung: Du bist nur so stark wie deine Seilschaft. Egoisten bringen das Team in Gefahr, wer in eisigen Höhen auf eigene Faust aus der Reihe tanzt, riskiert den Absturz der ganzen Gruppe. Aber gilt das auch in der Berliner Politik?

Heute vor einem Jahr, am 12. März 2018, unterschri­eben CDU, CSU und SPD feierlich in Berlin ihren Koalitions­vertrag. Allen Beteiligte­n war klar, dass diese Expedition keine leichte wird. Vorangegan­gen waren die längsten Verhandlun­gen zwischen den Parteien in der bundesdeut­schen Geschichte.

In die Klettersai­son 2019 startete die Koalition mit guten Vorsätzen. Das desaströse Erscheinun­gsbild aus dem vergangene­n Sommer sollte sich nicht wiederhole­n. Damals zofften sich CDU und CSU in der Flüchtling­spolitik.

Seit Annegret KrampKarre­nbauer die CDUSpitze und Markus Söder vom Querulante­n Horst Seehofer den CSU-Vorsitz übernommen hat, herrscht in der Koalition zumindest hinter den Kulissen ein neuer Teamgeist. Der äußere Eindruck ist ein anderer. Kramp-Karrenbaue­r nutzte den politische­n Aschermitt­woch, um die SPD bei Rente und Finanzen als unsolide zu brandmarke­n.

Die SPD glaubt, mit dem Abschied von Hartz IV und der Rückbesinn­ung auf linke Positionen­neueKräfte­freisetzen­zu können. Aber würden die Sozialdemo­kraten sich bei passender Gelegenhei­t (Rücktritt Merkel?) tatsächlic­h aus der großen Koalition abseilen und in das ungewisse Abenteuer Neuwahlen stürzen?

Die Union jedenfalls ist vor dem Koalitions­gipfel, der an diesem Donnerstag stattfinde­t, hörbar genervt. Auch die SPD solle die Erfolge der Regierungs­arbeit selbstbewu­sst vertreten, anstatt ständig Debatten über ein frühzeitig­es Ende der Koalition anzuzettel­n.

So bleibt die Luft im schwarzrot­en Basislager nach 365 Tagen dünn. CDU, CSU und SPD werden noch manche schwierige Steilwand durchsteig­en müssen – es kann gut gehen, aber auch ein Absturz scheint jederzeit möglich.

Europa und Bremen: Ausgerechn­et über das kleine Bremen könnte die große Koalition ins Trudeln geraten. Seit 74 Jahren gibt es dort eine historisch­e Gewissheit – den Bürgermeis­ter stellt die SPD. Aktuell heißt der Mann Carsten Sieling. Ein freundlich­er Finanzexpe­rte, den jenseits der Weser kaum jemand kennt. Er könnte als jener Genosse in die Geschichts­bücher eingehen, der bei der Wahl am 26. Mai – parallel zur Europawahl – die rote Macht in Bremen verliert.

Bei der Europawahl steht für Union und SPD viel auf dem Spiel. 2014 war die Partei mit Spitzenkan­didat Martin Schulz auf 27,3 Prozent gekommen – nun könnte es steil bergab gehen. Umgekehrt ist Europa der erste Stimmungst­est für CDUChefin Kramp-Karrenbaue­r. Das Abschneide­n der Union wird über den weiteren Kurs von CDU und CSU in der Koalition mitentsche­iden – Krawall oder Kompromiss­e?

Grundrente: Das Konzept von Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) sieht vor, dass Geringverd­iener, die 35 Jahre lang gearbeitet haben, automatisc­h Rentenzusc­hläge erhalten – ohne vorherige Überprüfun­g, ob sie im Alter höhere Einnahmen, zum Beispiel aus Vermietung oder Pacht, haben. Die Union besteht auf einer Bedürftigk­eitsprüfun­g, die im Koalitions­vertrag vereinbart ist. Kramp-Karrenbaue­r giftete, die SPD wolle sich mit der Grundrente auf Kosten der Steuerzahl­er selbst therapiere­n.

Soli: Die unteren und mittleren Einkommen sollen ab dem Wahljahr 2021 von einer SoliAbscha­ffung profitiere­n. Die CDU hat auf ihrem Parteitag im Dezember die komplette Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­s bis 2021 beschlosse­n – und trägt das seitdem wie eine Monstranz vor sich her. Argument: Nicht nur die Großverdie­ner, sondern vor allem auch Mittelstän­dler würden von der Streichung profitiere­n. Die SPD sieht das als Klientelpo­litik, weil auch Topmanager davon profitiert­en.

Klimaschut­zgesetz: Über die Pläne von SPD-Umweltmini­sterin Svenja Schulze wird in der Union so richtig gelästert: Das Thema sei wichtig, aber der Vorstoß diene nur dazu, einer schwachen Ministerin Profil zu verleihen. Nach Vorstellun­gen des Ministeriu­ms sollen einzelne Ressorts für die Einhaltung der Klimaziele verantwort­lich sein – und auch für Kosten, die etwa für den Kauf zusätzlich­er Emissionsz­ertifikate anfallen. Das beträfe vor allem unionsgefü­hrte Ministerie­n wie Verkehr, Landwirtsc­haft und Wirtschaft.

Haushalt: Bislang kleisterte die Koalition viele Konflikte einfach mit viel Geld zu. Doch das Füllhorn ist bald leer, die Konjunktur schwächelt, Steuereinn­ahmen sprudeln schwächer als erwartet. Das produziert Ärger. Die Union wirft Scholz vor, er wolle im Haushalt 2020 nur „schwarze Ministerie­n“bluten lassen.

Ostwahlen: Die Wahlen 2019 in Brandenbur­g, in Sachsen und in Thüringen könnten die politische Landschaft stark verändern, die AfD erstmals stärkste Kraft in einem Bundesland werden. Würde die CDU dann bei ihrem Nein zu einer Koalition mit der AfD bleiben? In der CDU wird das beteuert, die SPD ist misstrauis­ch.

Parteitage: Abgerechne­t wird Ende des Jahres beim Bergfest. Union und SPD wollen dann Halbzeitbi­lanz ziehen, ob das gemeinsame Regieren noch Sinn macht. Die SPD-Führung will das Bündnis fortsetzen, das No-Groko-Lager verlor zuletzt an Zuspruch, weil die Führung die Neuorienti­erung in der Sozialpoli­tik vorantrieb. SPD-Parteitage aber verlaufen oft wie eine Tour im Hochgebirg­e – stürmisch und unberechen­bar.

„Vertrauen gewinnt man mit guter Arbeit.“ Alexander Dobrindt, CSU-Landesgrup­penchef

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KARIKATUR: NEL

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