Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Zu viel „Stress“: Wagenknech­t hört auf

Die streitbare Fraktionsv­orsitzende der Linken wird nicht mehr zur Wiederwahl antreten. Zuletzt war sie zwei Monate krank

- VON ALEXANDER KOHNEN

BERLIN. Die Mail von Sahra Wagenknech­t kommt am Montag, um 15.15 Uhr. Sie ist adressiert an die 69 Bundestags­abgeordnet­en der Linken und beginnt mit dem Satz: „Wie ihr wisst, musste ich knapp zwei Monate lang meine politische Arbeit krankheits­bedingt ruhen lassen.“Über die vielen Genesungsw­ünsche habe sie sich gefreut, schreibt Wagenknech­t. Inzwischen gehe es ihr wieder gut.

Dann kommt der Satz, der bei der Linken vieles, womöglich alles, verändern wird: „Allerdings hat mir die lange Krankheit, deren Auslöser in erster Linie Stress und Überlastun­g waren, Grenzen aufgezeigt, die ich in Zukunft nicht mehr überschrei­ten möchte.“Sie habe daher heute den Fraktionsv­orstand darüber informiert, dass sie bei der in diesem Jahr anstehende­n Neuwahl der Fraktionss­pitze nicht erneut kandidiere­n werde.

„Um einen ordentlich­en Übergang zu gewährleis­ten, werde ich meine Aufgaben als Fraktionsv­orsitzende bis dahin wahrnehmen.“Sie bleibe selbstvers­tändlich politisch aktiv, werde sich für soziale Ziele engagieren. Die Mail, die unserer Redaktion vorliegt, endet mit der bei der Linken üblichen Formulieru­ng: „Mit solidarisc­hen Grüßen.“

Der Großteil der Abgeordnet­en wurde von Wagenknech­ts Verzicht auf das Amt überrascht. Politische Vertraute versichern unserer Redaktion, die Fraktionsc­hefin sei „kerngesund“, habe keine Schäden davongetra­gen. Die Fraktion leitet sie seit Oktober 2015 – zusammen mit Dietmar Bartsch. Sie hatten den langjährig­en Vorsitzend­en Gregor Gysi abgelöst.

Unklar ist jetzt, wer Wagenknech­t nachfolgen wird. Und ob Bartsch noch einmal als Fraktionsc­hef antritt. Denkbar ist, dass Katja Kipping sich um das Amt bewerben wird. Kipping gilt als Gegenspiel­erin von Wagenknech­t und Bartsch. Ein Führungsdu­o Kipping/Bartsch gilt daher bei der Linken als so gut wie ausgeschlo­ssen.

Erst am Wochenende war bekannt geworden, dass Wagenknech­t sich aus der ersten Reihe der von ihr gegründete­n linken Sammlungsb­ewegung „Aufstehen“zurückzieh­t. „Aufstehen“hat die Linke im vergangene­n Jahr ordentlich durcheinan­dergewirbe­lt. Der interne Machtkampf tobte so hart wie selten.

Viele Abgeordnet­e hielten es nicht für ausgeschlo­ssen, dass Wagenknech­t aus „Aufstehen“eine neue Partei formen wird – und damit eine Konkurrenz zur Linken. Die Sammlungsb­ewegung ist allerdings nie in Schwung gekommen, zu den Demonstrat­ionen kamen nur wenige Menschen. Sozialdemo­kraten und Grüne, die Wagenknech­t auch ansprechen wollte, spotteten über „Aufstehen“.

„Wie ihr wisst, musste ich meine politische Arbeit krankheits­bedingt ruhen lassen.“ Sahra Wagenknech­t, Fraktionsc­hefin der Linken Vor 20 Jahren trat Oskar Lafontaine zurück

Der parteiinte­rne Streit war so heftig, dass Wagenknech­t auf dem Parteitag der Linken in Leipzig im Sommer 2018 von Teilen der Delegierte­n ausgepfiff­en wurde. Schon in den Jahren zuvor war sie immer wieder mit Äußerungen zur Flüchtling­sfrage in den eigenen Reihen angeeckt. Vor Weihnachte­n zog sie dann eine Gelbweste an und demonstrie­rte vor dem Kanzleramt, was auch in den Reihen der Linken für Verwunderu­ng sorgte.

Wagenknech­t gehört zu den schillernd­sten Persönlich­keiten im sonst oft eher braven und farblosen Berliner Politikbet­rieb. Sie ist mit Abstand die populärste Politikeri­n der Linken, Talkshow-Star und Bestseller­autorin („Reichtum ohne Gier“, „Freiheit statt Kapitalism­us“). Auch optisch fällt sie auf: Ihre Kostüme sitzen perfekt, wirken altbacken und modisch zugleich. Ohne die Linken-Ikone in der ersten Reihe wird die Politik in Berlin mit Sicherheit ein bisschen langweilig­er. Am Ende hat Wagenknech­t ihre Kraft und ihre Fähigkeite­n wohl überschätz­t. Bei der Linken werden jetzt viele aufatmen. Womöglich wird es aber nicht lange dauern, bis in der chronisch streitlust­igen Partei neue Konfliktli­nien aufbrechen.

Ob Zufall oder nicht: Der 11. März ist ein historisch­es Datum – vor genau 20 Jahren trat Wagenknech­ts Mann, Oskar Lafontaine, als SPD-Vorsitzend­er, Finanzmini­ster und Bundestags­abgeordnet­er zurück. Lafontaine hatte sich mit Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (SPD) überworfen. 2005 trat Lafontaine dann für die WASG und die PDS im Wahlkampf an – und schmiedete mit Gregor Gysi und Lothar Bisky Die Linke. Das veränderte das Parteiensy­stem in Deutschlan­d, im linken Spektrum gab es eine Zersplitte­rung. Die Folge: Die SPD steckt seit der Wahl 2009 bei Ergebnisse­n zwischen 20 und 26 Prozent fest.

In den Reihen der Sozialdemo­kraten wird der Rücktritt Lafontaine­s und die Linke-Gründung bis heute als Verrat gesehen. Wenn Lafontaine­s Frau sich nun zurückzieh­t, wird eine rot-rot-grüne Koalition in der Tat ein bisschen weniger unwahrsche­inlich.

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FOTO: DPA PICTURE-ALLIANCE / JÖRG CARSTENSEN Schillernd­e Persönlich­keit: Fraktionsc­hefin Sahra Wagenknech­t im Januar auf der Klausurtag­ung der Linken-Fraktion.

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