Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Menschheitsdämmerung
Dem Theater Gera gelingt mit Mieczyslaw Weinbergs Oper „Die Passagierin“ein großartiges Fanal wider das Vergessen
GERA. Rauchschwaden steigen aus dem Graben zum kurzen, martialisch-robusten Vorspiel auf, und selbst wer „Die Passagierin“von Mieczyslaw Weinberg schon kennt, weiß nicht, ob sie aus den Schornsteinen des weißen, mondänen Ozeanliners herrühren, der sogleich auf der Bühne des Geraer Theaters prangt, oder aus den Schloten der Menschenvernichtungsfabriken von Auschwitz. Ein KZ in der Oper? – Völlig unmöglich! So hätte der Musikkenner und Philosoph Theodor W. Adorno sicher geurteilt.
Dem Team um den Intendanten Kay Kuntze gelingt mit einer hochriskanten Inszenierung des Stücks nicht nur der Gegenbeweis. Sondern es trifft mit antikischer Wucht das Premierenpublikum tief ins Mark. Keinen Schlussvorhang, keinen Applaus gibt es am Ende.
Voller Ergriffenheit verlassen die Zuschauer schweigend den Saal und tragen im Sinn eine Warnung und im Herzen die allermenschlichste Regung davon, die pietas. Dergleichen habe ich in 35 Jahren als Opernbesucher niemals erlebt. Diese Produktion adelt die Stadt, ihre Bürger und ihr kleines Theater, das so etwas Unglaubliches zu leisten vermag. Mieczyslaw Weinberg (1919-1996), ein polnischer Jude, der seine Familie in der Shoah verlor, schrieb die erst 2010 uraufgeführte Oper nach einem autobiografischen Roman von Zofia Posmysz. Weder ihm, noch der inzwischen 95-jährigen AuschwitzÜberlebenden ging es vordergründig um Anklage oder um Rache, sondern um ein Zeichen wider das Vergessen. Das Epos stellt die ehemalige KZAufseherin Lisa Anfang der 1960erJahre während der Überfahrt nach Südamerika ins Zentrum. Auf dem Schiff glaubt sie, in einer rätselhaften Fremden Marta, eines ihrer Opfer in Auschwitz, wiederzuerkennen. Prompt keimen verdrängte Erinnerungen an den Alltag der Lagerhölle erinnyenhaft auf. Das ergibt eine zweite Zeit- und Handlungsebene, etwa 15 Jahre zuvor.
Kuntzes waghalsig-genialer Regiekniff, beide Ebenen zu verschmelzen, gelingt völlig, ohne Missverständnisse zu erzeugen. Auf die Drehbühne montiert, sehen wir die Deckaufbauten des Luxusliners (Ausstattung: Martin Fischer). Reisende lehnen an der Reling und genießen ihre Drinks. Als Lisa sich unter fatalen Gewissensqualen ihrem Gatten Walter, einem bundesdeutschen Diplomaten, offenbart, reagiert er entsetzt, weil er um seine Karriere fürchtet. „Jeder hat das Recht, den Krieg zu vergessen“, wird er später, im zweiten Akt, ruchlos behaupten.
Da – lassen einige Schiffsgäste die schicken Sommerkleidchen fallen und stehen plötzlich in zerschlissener Wäsche und, bar der Perücken, kahlgeschorenen Hauptes da. Ein Schwenk der Drehbühne genügt – Die Todeshölle von Auschwitz findet auf dem Luxusliner – trotz der Verdrängung des großen Schiffs – ihre Präsenz. SS-Aufseherin Lisa (Annette Schönmüller) führt ein perfides Regime und will die Zuneigung der Häftlinge erzwingen. schon mutiert die Schiffsreling zur Galerie fürs KZ-Wachpersonal und das Kabinendeck zur Lagerbaracke. Arglose Bürgerinnen sehen sich unvermutet zu todgeweihten Häftlingen verdammt. Kommandos aus dem zentral – wie ein Popanz, ein Götze – aufgehängten Lagerlautsprecher rufen sie bei ihren Nummern streng zum Appell.
So konsequent deutet Kuntze das transitorische Moment der Überfahrt. Das heißt: Historie ist nach dieser geschichtspolitischen Lesart nie vergangen und begraben, sondern bleibt Teil der Gegenwart. Auschwitz ist jetzt – und die Gefahr einer Menschheitsdämmerung, die die Grundfesten der Humanitas auflöst, allgegenwärtig. Allzu dünn die Kruste der Zivilität, auf der wir wandeln; und ein kurzer, fahrlässiger Augenblick reicht dazu aus, dass wir aufgrund eines Stigmas, das wir nicht mal bemerkt hatten, selber zu Opfern werden.
Der Opportunist Walter und andere Passagiere stehen, als seien sie Unbeteiligte, am Geländer und schauen dem sadistischen Treiben ungerührt zu.UndLisaalsuniformierteHerrin über die Lagerhölle agiert mittendrin. Präzise arbeitet Kuntze die Psychopathologie dieser Figur heraus, die die Zuneigung ihrer Opfer mit Peitsche und Zuckerbrot zu erzwingen versucht. An Gemeinheiten, Sarkasmen und Perversionen wird vonseiten der SS nicht gespart. Lichtblicke entstehen aus der geschundenen Gegenwelt inmitten der Finsternis. Etwa wenn Marta zum Geburtstag von ihren Schicksalsgenossinnen eine kleine rote Rose geschenkt bekommt. Oder wenn eine polnische Lagerinsassin einen entdeckten Kassiber spontan, um den Adressaten zu schützen, als Liebesbrief Tadeks übersetzt. Tadeks innige, wahrhaftige Liebe zu Marta ist das diametrale Gegenbild zur oberflächlichen Beziehung Lisas und Walters, der seine attraktive Frau bloß als Trophäe ansieht.
Weinbergs Musik trägt die emotionale, innere Handlung der Oper. Modern und frei in komplizierter Rhythmik wie auch der Tonalität, verarbeitet sie Stilelemente des Jazz und der Volksmusik und findet trotz konventionellen Orchesterapparates eigentümliche, sinnliche Klangmischungen. Sogar unter Tränen kann man das genießen. GMD Laurent Wagner kostet im Verein mit seinen vorzüglich einstudierten Philharmonikern viele Details vom zartesten, luftigen Flageolett bis hin zu derbesten Blechbläser-Sforzati aus. Die Solisten und der Chor singen auf einem Niveau, wie es einem Haus dieser Größe zur Ehre gereicht.
János Ocsovai, ein hoher Tenor, verkörpert als Walter in jeder Hinsicht den Inbegriff einer wankelhaften Arroganz, während Alejandro Lárraga Schleske als Tadek bis zum Untergang die Aufrichtigkeit wahrt. Das Stimmen-Duell zwischen der farbreich-volumig intonierenden Anne Preuß als Marta und der zu angemessen hysterischer Schärfe neigenden Annette Schönmüller als Lisa geht pari aus.
Ihre letzte Begegnung an Deck, nachdem die Bordkapelle Lisa mit dem Lagerwalzer entlarvt hat, bildet einen Kulminationspunkt der Perversion.
Das letzte Wort gebührt Marta allein. Im Epilog, ein paar Jahre später, fleht sie, die KZ-Opfer nicht zu vergessen. Ihren Peinigern vergebe sie nie. Dann geht sie, im Reisemantel, ziellos und einsam aus der Nacht davon.
Im Saal dämmert es. Wie als Kinoabspann lesen wir – auf den Portalschleier projiziert – Auszüge aus den authentischen Todeslisten von Auschwitz. Das Publikum bleibt starr in den Sitzen, von kathartischem Donner gerührt.
Nicht, dass uns all das nichts anginge. Unter den Namen aus ganz Europa finden wir die jener Menschen, derer wir in unserer Mitte entbehren: zum Beispiel Marta Beer aus Gera, Hans Gneiss, Weida, Anna Lindner, Meuselwitz, Kurt Israel Blumenthal, Jena, Susanne Sara Appel, Weimar, ...