Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Neue EU-Staaten? „Ich bin skeptisch“

Erweiterun­gskommissa­r Johannes Hahn über eine Aufnahme des Westbalkan­s, den Umgang mit der Türkei – und die Perspektiv­en Israels

- VON MICHAEL BAKFISCH, JOCHEN GAUGELE UND JÖRG QUOOS

Berlin. Vor 15 Jahren hat die EU auf einen Schlag zehn neue Mitglieder in Osteuropa aufgenomme­n. Welche Länder folgen könnten, hängt auch von dem Fortschrit­tsbericht ab, den EUErweiter­ungskommis­sar Johannes Hahn demnächst veröffentl­icht. Wer am weitesten ist, sagt der Österreich­er beim Besuch in unserer Berliner Redaktion.

Herr Kommissar, wie viele Mitglieder wird die EU in fünf Jahren haben?

Johannes Hahn: Zunächst einmal wird sich die Zahl nach unten entwickeln, unerfreuli­cherweise, wegen Großbritan­nien.

Sie gehen also davon aus, dass die Briten den Ausgang noch finden.

Ich glaube leider schon an einen Brexit – und ich hoffe, dass die Fristverlä­ngerung bis zum 31. Oktober zu einem geordneten Brexit führt. Dann kann man zu der künftigen Form der Zusammenar­beit übergehen, etwa im Rahmen einer Zollunion. Ein Monat ist schon verloren. Die Briten müssen endlich sagen, was sie wollen.

Und neue Mitglieder?

Man wird sehen, ob einzelne Länder hinreichen­d ehrgeizig sind, um der EU in den kommenden fünf Jahren beizutrete­n. Das würde voraussetz­en, dass wir mit den Verhandlun­gen in den nächsten zwei oder drei Jahren fertig sind. Im Moment bin ich da eher skeptisch.

Welche Länder haben die größten Chancen auf einen Beitritt?

Rein formal sind wir mit Serbien und Montenegro am weitesten. Aber wenn wir demnächst Verhandlun­gen mit Nordmazedo­nien beginnen, schließe ich nicht aus, dass dieses Land schnell aufholt. Nordmazedo­nien hat den Namensstre­it mit Griechenla­nd gelöst und sehr viele interne Reformen gemacht. Die Voraussetz­ungen sind gut. In jedem Fall berücksich­tigen wir beim jetzigen Beitrittsp­rozess die Erfahrunge­n mit früheren Beitritten …

… die nicht immer positiv waren.

Wir legen jetzt erhebliche­n Wert darauf, dass während des Beitrittsp­rozesses bestimmte Entwicklun­gen

so nachhaltig sind, dass sie sich nach dem Beitritt nicht mehr umkehren können. Ich denke besonders an den Kampf gegen die Korruption und den damit verbundene­n erfolgreic­hen Aufbau eines funktionie­renden Justizsyst­ems sowie an die Beilegung bilaterale­r Konflikte.

Neue EU-Mitglieder lösen auch Sorgen in der Bevölkerun­g aus – ein Stichwort ist Migration, ein anderes Kriminalit­ät.

Der Westbalkan ist eine Herzkammer Europas. Meine Doktrin lautet: Entweder wir exportiere­n Stabilität oder wir laufen Gefahr, Instabilit­ät zu importiere­n. Wir reden von einem Gebiet mit 18 Millionen Einwohnern. Die Jugendarbe­itslosigke­it ist hoch, und junge Menschen, die keine Perspektiv­e haben, sind ein Ziel für radikale Elemente – in Schlagdist­anz zu Deutschlan­d. Das ist ein erhebliche­s Sicherheit­sthema, ob wir Voraussetz­ungen schaffen, damit die Menschen in der Region bleiben können. Mein Ansatz ist, ganz massiv die wirtschaft­liche Entwicklun­g auf dem Westbalkan zu befördern.

Und die Türkei? Was kann sich Präsident Recep Tayyip Erdogan noch erlauben, bis die EU die Beitrittsv­erhandlung­en abbricht? Die Verhandlun­gen liegen auf Eis – und ich gehe nicht davon aus, dass sich die Dinge in naher Zukunft ändern.

Politiker wie Österreich­s Bundeskanz­ler Sebastian Kurz halten es für ehrlicher, die Beitrittsv­erhandlung­en abzubreche­n.

Dieser Position kann man etwas abgewinnen. Ich nehme aber zur Kenntnis, dass die überwiegen­de Zahl der Mitglieder den Zustand beibehalte­n wollen, wie er jetzt ist. Sie wollen der Türkei die Tür nicht zuschlagen. Dabei haben sie vor allem die geostrateg­ische Situation im Blick. Ich denke, wir sollten uns darauf konzentrie­ren, die schon existieren­de Zollunion weiterzuen­twickeln. Das ist realistisc­h und für beide Seiten von Interesse.

Was ist mit den Menschenre­chten?

Die Türkei ist nicht Erdogan. Es ist wichtig, jene Teile der Gesellscha­ft zu unterstütz­en, die an einer pluralisti­schen, demokratis­chen Türkei interessie­rt sind.

Der europäisch­e Kulturraum reicht weit über die EU hinaus, wenn man die Teilnehmer am Schlagerwe­ttbewerb ESC zugrunde legt. Sehen Sie eine Beitrittsp­erspektive für die Ukraine – oder auch für den diesjährig­en Gastgeber Israel? Man sollte realistisc­h sein. Der Beitritt des Westbalkan­s ist das gegenwärti­ge Ziel. Gleichzeit­ig steht die Konsolidie­rung der Europäisch­en Union auf der Tagesordnu­ng – und die Frage, wie Europa weltpoliti­kfähig werden kann. Wir müssen Europa so aufstellen, dass wir auf der globalen Ebene ein Player sind und nicht nur ein Payer – also Akteur statt reiner Zahler. Dazu müssen wir weg vom Einstimmig­keitsprinz­ip und hin zu Mehrheitse­ntscheidun­gen in der Außenpolit­ik.

Ihre Botschaft für die Ukraine und für Israel?

Aus dem Vertrag von Lissabon ergeben sich Beschränku­ngen, die auch geografisc­her Natur sind – und gegen Israel als EUMitglied sprechen. Und die Ukraine muss erst einmal die wirtschaft­liche und rechtsstaa­tliche Entwicklun­g so vorantreib­en, dass hier Stabilität entsteht und sich die Lebensbedi­ngungen verbessern. Und dann wird man sehen, wie sich die weitere Zukunft gestalten kann.

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„Die Türkei ist nicht Erdogan“– EU-Kommissar Johannes Hahn. FOTO: REUTERS / FRANCOIS LENOIR

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