Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Neue EU-Staaten? „Ich bin skeptisch“
Erweiterungskommissar Johannes Hahn über eine Aufnahme des Westbalkans, den Umgang mit der Türkei – und die Perspektiven Israels
Berlin. Vor 15 Jahren hat die EU auf einen Schlag zehn neue Mitglieder in Osteuropa aufgenommen. Welche Länder folgen könnten, hängt auch von dem Fortschrittsbericht ab, den EUErweiterungskommissar Johannes Hahn demnächst veröffentlicht. Wer am weitesten ist, sagt der Österreicher beim Besuch in unserer Berliner Redaktion.
Herr Kommissar, wie viele Mitglieder wird die EU in fünf Jahren haben?
Johannes Hahn: Zunächst einmal wird sich die Zahl nach unten entwickeln, unerfreulicherweise, wegen Großbritannien.
Sie gehen also davon aus, dass die Briten den Ausgang noch finden.
Ich glaube leider schon an einen Brexit – und ich hoffe, dass die Fristverlängerung bis zum 31. Oktober zu einem geordneten Brexit führt. Dann kann man zu der künftigen Form der Zusammenarbeit übergehen, etwa im Rahmen einer Zollunion. Ein Monat ist schon verloren. Die Briten müssen endlich sagen, was sie wollen.
Und neue Mitglieder?
Man wird sehen, ob einzelne Länder hinreichend ehrgeizig sind, um der EU in den kommenden fünf Jahren beizutreten. Das würde voraussetzen, dass wir mit den Verhandlungen in den nächsten zwei oder drei Jahren fertig sind. Im Moment bin ich da eher skeptisch.
Welche Länder haben die größten Chancen auf einen Beitritt?
Rein formal sind wir mit Serbien und Montenegro am weitesten. Aber wenn wir demnächst Verhandlungen mit Nordmazedonien beginnen, schließe ich nicht aus, dass dieses Land schnell aufholt. Nordmazedonien hat den Namensstreit mit Griechenland gelöst und sehr viele interne Reformen gemacht. Die Voraussetzungen sind gut. In jedem Fall berücksichtigen wir beim jetzigen Beitrittsprozess die Erfahrungen mit früheren Beitritten …
… die nicht immer positiv waren.
Wir legen jetzt erheblichen Wert darauf, dass während des Beitrittsprozesses bestimmte Entwicklungen
so nachhaltig sind, dass sie sich nach dem Beitritt nicht mehr umkehren können. Ich denke besonders an den Kampf gegen die Korruption und den damit verbundenen erfolgreichen Aufbau eines funktionierenden Justizsystems sowie an die Beilegung bilateraler Konflikte.
Neue EU-Mitglieder lösen auch Sorgen in der Bevölkerung aus – ein Stichwort ist Migration, ein anderes Kriminalität.
Der Westbalkan ist eine Herzkammer Europas. Meine Doktrin lautet: Entweder wir exportieren Stabilität oder wir laufen Gefahr, Instabilität zu importieren. Wir reden von einem Gebiet mit 18 Millionen Einwohnern. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, und junge Menschen, die keine Perspektive haben, sind ein Ziel für radikale Elemente – in Schlagdistanz zu Deutschland. Das ist ein erhebliches Sicherheitsthema, ob wir Voraussetzungen schaffen, damit die Menschen in der Region bleiben können. Mein Ansatz ist, ganz massiv die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Westbalkan zu befördern.
Und die Türkei? Was kann sich Präsident Recep Tayyip Erdogan noch erlauben, bis die EU die Beitrittsverhandlungen abbricht? Die Verhandlungen liegen auf Eis – und ich gehe nicht davon aus, dass sich die Dinge in naher Zukunft ändern.
Politiker wie Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz halten es für ehrlicher, die Beitrittsverhandlungen abzubrechen.
Dieser Position kann man etwas abgewinnen. Ich nehme aber zur Kenntnis, dass die überwiegende Zahl der Mitglieder den Zustand beibehalten wollen, wie er jetzt ist. Sie wollen der Türkei die Tür nicht zuschlagen. Dabei haben sie vor allem die geostrategische Situation im Blick. Ich denke, wir sollten uns darauf konzentrieren, die schon existierende Zollunion weiterzuentwickeln. Das ist realistisch und für beide Seiten von Interesse.
Was ist mit den Menschenrechten?
Die Türkei ist nicht Erdogan. Es ist wichtig, jene Teile der Gesellschaft zu unterstützen, die an einer pluralistischen, demokratischen Türkei interessiert sind.
Der europäische Kulturraum reicht weit über die EU hinaus, wenn man die Teilnehmer am Schlagerwettbewerb ESC zugrunde legt. Sehen Sie eine Beitrittsperspektive für die Ukraine – oder auch für den diesjährigen Gastgeber Israel? Man sollte realistisch sein. Der Beitritt des Westbalkans ist das gegenwärtige Ziel. Gleichzeitig steht die Konsolidierung der Europäischen Union auf der Tagesordnung – und die Frage, wie Europa weltpolitikfähig werden kann. Wir müssen Europa so aufstellen, dass wir auf der globalen Ebene ein Player sind und nicht nur ein Payer – also Akteur statt reiner Zahler. Dazu müssen wir weg vom Einstimmigkeitsprinzip und hin zu Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik.
Ihre Botschaft für die Ukraine und für Israel?
Aus dem Vertrag von Lissabon ergeben sich Beschränkungen, die auch geografischer Natur sind – und gegen Israel als EUMitglied sprechen. Und die Ukraine muss erst einmal die wirtschaftliche und rechtsstaatliche Entwicklung so vorantreiben, dass hier Stabilität entsteht und sich die Lebensbedingungen verbessern. Und dann wird man sehen, wie sich die weitere Zukunft gestalten kann.