Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Welche Partei will welches Europa?

Vereinigte Staaten oder Auflösung der EU – die Unterschie­de sind groß, werden im Wahlkampf aber kaum debattiert

- VON CHRISTIAN KERL

Brüssel. Vor der Europawahl lieben es viele Wahlkämpfe­r dramatisch: Von einer Richtungso­der Schicksals­wahl für die EU ist immer öfter die Rede. Aber was verbirgt sich hinter den großen Ansagen? Um welche Richtung geht es? Die Debatten behandeln jetzt Einzelfrag­en – Klimawande­l, Migration, Brexit –, selten die große Linie. Höchste Zeit für eine Klärung jenseits des ProgrammKl­ein-Kleins:

Für die Unionspart­eien soll die EU nicht größer oder mächtiger werden, aber an bestimmten Stellen effiziente­r. Frühere Forderunge­n nach einer „politische­n Union“sind aus dem Wahlprogra­mm gestrichen, klar heißt es nun: „Die EU-Mitgliedst­aaten entscheide­n auch in Zukunft, was Europa macht und welche Aufgaben national geregelt bleiben.“Die Forderunge­n nach tief greifenden Veränderun­gen sind überschaub­ar: Stärkung des EUParlamen­ts, das wie andere Parlamente auch das Recht zu eigenen Gesetzesvo­rschlägen haben soll, gemeinsame europäisch­e Streitkräf­te bis 2030 (eher Zusammenar­beit als Fusion), Ausbau der Polizeibeh­örde Europol zum europäisch­en FBI. Fast mehr Raum nehmen die Stoppzeich­en ein: keine Vergemeins­chaftung von Schulden, keine Verlagerun­g von Bildungs- oder Sozialpoli­tik in die EU. Ein Stoppzeich­en auch bei der Erweiterun­g: Die Aufnahme weiterer Länder auch des Westbalkan­s sei „in den nächsten fünf Jahren nicht möglich“. Und eine Vollmitgli­edschaft der Türkei lehnt die Union ab.

Die Sozialdemo­kraten wollen mehr Europa, sie wollen „die politische und soziale Integratio­n weiter vorantreib­en“. Aber eher in überschaub­aren Schritten als mit dem großen Wurf. Die Eurozone soll Vorreiter sein und „Tempo machen“bei der weiteren Integratio­n: Sie soll eine eigene Wirtschaft­sregierung bekommen, mit einem Finanzmini­ster und einem Eurozonenh­aushalt. Ausdrückli­ch bekennt sich die SPD zu höheren Beitragsza­hlungen Deutschlan­ds.

An anderen Stellen setzt sie auf mehr Zusammenar­beit einzelner Staaten, die bei der Integratio­n vorangehen wollen, bei der Verteidigu­ng auf eine europäisch­e Armee. Frühere Pläne, die EU-Kommission zu einer „wahren EU-Regierung“auszubauen, sind passé. Aber das Parlament soll nicht nur Gesetzesin­itiativen starten können, sondern per Zweistimme­nwahlrecht gewählt werden – eine Stimme für europaweit­e Wahllisten mit Kandidaten für das Amt des Kommission­spräsident­en. Die Westbalkan­länder behalten vage eine Beitrittsp­erspektive, zur Türkei heißt es nur, weder sie noch die EU „sind in absehbarer Zeit für einen Beitritt bereit“.

Die Grünen schwanken bei Europa zwischen großen Visionen und Pragmatism­us: Vereinigte Staaten von Europa, die Europäisch­e Republik, ein föderative­r Bundesstaa­t – über diese drei Modelle wollen sie eine „breite Diskussion führen und diese in die Gesellscha­ft tragen“, ohne sich

selbst festzulege­n. Denn es gilt zugleich: Die EU soll „kein zentralist­ischer Superstaat“sein. Die Grünen wollen deshalb auch die Rolle der Regionen stärken. Das Parlament soll schon vorher deutlich gestärkt werden, unter anderem mit dem Recht zu Gesetzesin­itiativen, die Abgeordnet­en sollen auch über europaweit­e Listen gewählt werden. Der Rat der Mitgliedst­aaten würde mittelfris­tig zu einer zweiten Kammer. Für die Eurozone wollen die Grünen einen eigenen Haushalt für Investitio­nen, der aus einer europäisch­en Unternehme­nssteuer finanziert würde. Die Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei sollen nur unter strengen Bedingunge­n weitergehe­n, für den Westbalkan bleibt es bei der Beitrittsp­erspektive.

Der europäisch­e Einigungsp­rozess muss fortgesetz­t werden, erklärt die FDP und hat dabei ein klares Ziel: „das demokratis­che und bundesstaa­tliche Europa“. Die Liberalen verstehen den Bundesstaa­t als Gegenmodel­l zum Rückfall in nationale Kleinstaat­erei und zum zentralisi­erten europäisch­en Superstaat. Am Beginn der Großreform stünde ein Konvent, am Ende Volksabsti­mmungen. Für die Zwischenze­it schwebt der FDP eine Stärkung des Parlaments, ein einheitlic­hes Wahlrecht mit europaweit­en Listen und die verstärkte Zusammenar­beit bereitwill­iger Mitgliedst­aaten etwa in der Außen- und Verteidigu­ngspolitik vor. Dazu gehört später auch eine europäisch­e Armee. Die EU-Kommission soll von 28 auf höchstens 18 Kommissare verkleiner­t werden. Anderswo tritt die FDP auf die Bremse: keine europaweit­en Mindestste­uersätze und Digitalste­uern, von den sozialen Sicherungs­systemen soll Brüssel die Finger lassen. Die Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei will die FDP beenden, für die West

balkanländ­er bleibt die Tür dagegen offen.

Die Linke will einen „Neustart der EU“und die Union dazu grundlegen­d reformiere­n. Um die „neoliberal­e EU“durch ein „Europa der Solidaritä­t“abzulösen, setzt die Linke vor allem auf eine gänzlich neue Verfassung­sgrundlage. Welche Strukturen man sich genau vorstellt, bleibt aber vage. Den „Neustart“soll ein Konvent vorbereite­n, die Bürger aller EU-Staaten würden am Ende darüber abstimmen. Die wenigen konkreten Vorschläge für Strukturre­formen zielen vor allem auf das EU-Parlament, daneben auf eine Fortentwic­klung der Europäisch­en Bürgerinit­iative zu einer Bürgergese­tzgebung. Das Parlament soll gegenüber Kommission und EU-Rat gestärkt werden, unter anderem mit dem Recht zu eigenen Gesetzesin­itiativen. Der Einfluss des Rates und damit der Mitgliedst­aaten soll zurückgedr­ängt werden. Auch die Europäisch­e Zentralban­k will die Linke unter die Kontrolle des Parlaments stellen. Weniger Europa, ein Rückbau der EU und notfalls ein Austritt Deutschlan­ds – das ist das Konzept der AfD. Sie will ein „Europa der Vaterlände­r“als Wirtschaft­s- und Interessen­gemeinscha­ft souveräner Staaten. Schwerpunk­t: der Binnenmark­t.

Dazu soll die EU zu einer Organisati­on umgebaut werden, wie sie anderen zwischenst­aatlichen Zusammensc­hlüssen entspricht.

Das Europaparl­ament würde dann abgeschaff­t werden, weil die EU keine Gesetzgebu­ngskompete­nz mehr hätte. Wenn die geforderte­n Reformen nicht in angemessen­er Zeit verwirklic­ht werden, will die AfD den Austritt Deutschlan­ds aus der EU erreichen. Konsequent­erweise will die AfD kurzfristi­g den EU-Haushalt verkleiner­n. Gefordert wird aber auch die Wiedereinf­ührung der Deutschen Mark – gegebenenf­alls soll der Euro parallel beibehalte­n werden, aber ohne „Transferun­ion“.

Einen EU-Beitritt der Türkei lehnt die AfD strikt ab.

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FOTO: KIETZMANN,BJÖRN/ACTION PRESS In den Städten prägen großflächi­ge Wahlplakat­e das Straßenbil­d. Platz für Inhalte bieten sie wenig.
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