Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Über Klatsch

- VON JOE LITTLE

Den Saloon meiden wir heute. Irgendwie stecken uns die Ereignisse der vorigen Woche noch in den Knochen. Also haben wir Cowboys uns zum gemütliche­n Lektüreabe­nd daheim verabredet. Als ich das Bibliothek­szimmer betrete, hat Jack bereits eine frische Flasche Bushfire entkorkt und schmökert, auf die Ottomane ausgestrec­kt, in einem dicken roten Buch. Bill winkt mit der „Blauen“und ruft: „Ich les‘ nur die Kultur!“Dick verzieht das Gesicht, zückt sein Eierfon und meint: „Mal sehen, was die Menschheit heute bewegt.“

„Aach“, grunzt Jack, „die wirklichen Wahrheiten findet man nur in der hohen Literatur. Da lernt man, was die Welt im Innersten zusammenhä­lt.“– „Quatsch!“ruft Dick und liest die Schlagzeil­en von seinem Njuhsfied vor: „So wird der kleine Royal beschützt. Naddel: Ärger mit dem Ex. Mareike Amado lässt sich nicht unterkrieg­en. Schminktip­ps von Dieter Bohlen. Eh-Ess-Zeh: Warum wir auch diesmal nicht gewinnen. Ha! Das ist, was die Leut‘ interessie­rt! Prost!“

Als wir die Kehlen befeuchtet haben, bemerkt Jack: „Lauter Klatsch und Tratsch. Das will, lieber Dick, von uns niemand haben. Das geht uns nix an.“– „Sooo?“fragt Dickie lauernd. „Dann will ich ‘nen Klatsch erzählen, der euch bestimmt anhebt. Ich werd‘ nämlich nochmal Vater!“– „Hurra“, sagt Jack tonlos. „Wie konnte das nur passieren?“– Wir lachen, Bill schenkt einen doppelten Bushfire nach und ruft: „Märchenstu­nde!“

Dick spannt uns kurz auf die Folter. Dann berichtet er: „Es war im Februar, als wir nach verirrten Longhorns suchten. Die Kälte war arg, und in der Dämmerung beschlich mich die Müdigkeit. Da merkte ich, dass ich nicht weit vom Saloon entfernt war, und beschloss, mich kurz aufzuwärme­n.“– „Du willst sagen: Du hast es mit Hop Sing getrieben?“lästert Bill. Dick lässt sich nicht beirren. In verklärter Tonlage fährt er fort: „Als ich aus süßem Schlummer erwache, liege ich auf unserem Stammtisch. Ein intensiver Pfirsich-Duft betäubt meine Sinne, und zärtliche Hände streicheln mich am ganzen Körper. Überall, auch an der Wurzel des Glücks. Dann gleitet etwas Warmes, Weiches auf meinen Schoß. Widerstand, denke ich, ist gewiss zwecklos. Immer schneller tanzen die Sterne – dann...“

Dick strahlt. Ein bisschen bin ich neidisch auf sein Abenteuer mit der unnahbaren Shen-Te. Wir stoßen darauf an. Jack räuspert sich. Dann sagt er trocken: „Nicht schlecht, deine Geschichte. Aber du hast ihren Vetter geschwänge­rt, den Shaolin-Schläger Shui-Ta. Dick rollt mit den Augen. Er stottert: „Wa-as? Unsinn! I-i-ich ...!“Jack macht eine milde, wissende Geste. Dann greift er zu seinem Buch: Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band. Wir beugen uns über seine Schultern und lesen. Seite 593, „Der gute Mensch von Sezuan“. Wir sind voll von den Socken: Shen-Te und Shui-Ta sind ja ein und dieselbe Person! – Tja, so kann sich der Mensch täuschen.

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