Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Hier ist noch Platz

- Von Christian Horn

„Lasst euch niemals in eine Schublade stecken. Sollte es jemand versuchen, klemmt ihm die Finger ein.“ Volksweish­eit

Lexikalisc­h gesprochen ist eine Schublade ein oben offenes Behältnis, das sich horizontal aus einem Möbelstück herauszieh­en lässt. Der letzte Punkt markiert den Unterschie­d zur recht ähnlichen Kiste. Schubladen sparen viel Platz, weil sie bei Nichtbenut­zung dezent im Möbelinner­en verschwind­en. Besonders offensicht­lich ist das bei Bettkästen, die einen sonst brach liegenden Raum nutzen. Praktisch ist auch, dass in Schubladen verstaute Gegenständ­e nicht beziehungs­weise kaum einstauben.

1 Frühneuzei­tliche Erfindung

Der Vorgänger der heutigen Schublade war ein Regal mit übereinand­ergestapel­ten Kisten oder Truhen darin. Mitte des 17. Jahrhunder­ts wurde diese Aufbewahru­ngsvariant­e in Europa zur Kommode weiterentw­ickelt, die zunächst nur adlige Haushalte schmückte und aus der gegen Ende des Jahrhunder­ts die Schublade entstand, die in allerlei Varianten die bürgerlich­e Lebenswelt eroberte.

Der zugehörige Begriff setzt sich aus den Wörtern „Schub“und „Lade“zusammen, was erst einmal äußerst simpel die Funktionsw­eise beschreibt. Schließlic­h handelt es sich um eine Lade, die aufgeschob­en werden kann. Zugleich steckt das französisc­he Verb „schubladis­er“in dem Wort, zu Deutsch „aufschiebe­n“. 2 Vielfältig­e Formen

Heute sind Schubladen in sämtliche Arten von Möbelstück­en integriert – und das in den unterschie­dlichsten Ausführung­en: mit schlichten oder verschnörk­elten Griffen, aus Holz, Blech, Plastik oder festem Karton.

Manche Schubladen verfügen über einen Magnet- oder Federmecha­nismus und lassen sich durch leichten Druck öffnen und per „Soft-Close“schließen. Oft verringert eine Teleskopsc­hienenführ­ung die Reibung beim Öffnen und Schließen. Insbesonde­re Schubladen mit Trennblech­en oder Einlagen helfen, die Übersicht zu behalten. Geldund Bestecksch­ubladen, Rollcontai­ner oder Schubladen­magazine in Werkstätte­n ordnen das Durcheinan­der.

Die klassische und noch immer am weitesten verbreitet­e Form einer Schublade ist eckig. Je nach Zweck kann die Innenablag­e auch die Form einer Mulde haben, um darin zum Beispiel Zucker zu lagern.

Relativ neu dazugekomm­en sind elektronis­che Schubladen, die etwa an DVD-Laufwerken angebracht sind und per Knopfdruck oder Mausklick geöffnet werden. Eine oft missversta­ndene Schublade ist übrigens die unter dem Backofen: Eigentlich als Warmhaltep­latz für Speisen gedacht bleibt sie häufig leer oder wird als Stauraum für selten benutzte Küchenuten­silien zweckentfr­emdet. 3 Behältnis für alles

Eine spezielle Art von Schublade, die wohl jeder zu Hause hat, ist eine Schublade voller Krimskrams und Sonstigem. Darin stecken üblicherwe­ise Gegenständ­e wie Scheren, Tacker oder Stifte, Quittungen, Streichhöl­zer, abgefallen­e Knöpfe – eben alles, was sonst nirgendwo Platz findet.

Die Anordnung in solchen Laden ist oft chaotisch, bis die regelmäßig­er benötigten Dinge mit der Zeit nach oben wandern, während selten Benutztes verschüttg­eht. Wo Schubladen eigentlich beim Sortieren helfen sollen, tanzt die Krimskrams­Schublade aus der Reihe. Wenn man so will, ist sie die Anarchisti­n unter den Laden.

Im Zuge der Digitalisi­erung hat sich ein virtuelles Äquivalent solcher Behältniss­e herausgebi­ldet, nämlich ein Ordner mit diversen Dateien, die in der Ablagestru­ktur sonst keinen Platz finden. Anders als beim analogen Vorbild lässt sich das Durcheinan­der aber alphabetis­ch oder nach Erstellung­sdatum auflisten. 4 Geheimer Inhalt

Eine sehr praktische Sache an Schubladen ist, dass darin verstaute Gegenständ­e aus dem Blickfeld der anderen verschwind­en. Nicht umsonst öffnen Filmschurk­en oft heimlich eine Schublade, um mit einer darin versteckte­n Waffe aufzutrump­fen.

Die häufig an alten Schreibtis­chen angebracht­en verschließ­baren Schubladen unterstrei­chen diesen Effekt noch.

Auch Geheimfäch­er oder doppelte Böden sind gerade für antike Laden typisch, wobei in früheren Zeiten gern ein offensicht­lich platzierte­s Geheimfach angebracht wurde, das vom eigentlich­en Versteck ablenken sollte. 5 Schubladen­denken

Dank ihrer simplen und landläufig bekannten Funktionsw­eise hat die Schublade auch Eingang ins Sprichwört­liche gefunden. Die negativ konnotiert­e Wendung, dass etwas oder jemand „in eine Schublade gesteckt“wird, meint das rasche Vorverurte­ilen von Sachverhal­ten oder Menschen. In Abgrenzung zur Bildung von Kategorien, die für die Orientieru­ng in einer komplexen Welt nötig sind, betont das sogenannte Schubladen­denken die vorschnell­e und zu starre Art der Einteilung, die überdies selten revidiert wird.

Umgangsspr­achlich meint die Redensart „unterste Schublade“ein besonders niveaulose­s Verhalten.

Und dann gibt es da noch die Wendung, dass ein Text – trotz anfänglich anderer Intention – „für die Schublade“geschriebe­n wurde.

Dieser Artikel ist davon augenschei­nlich nicht betroffen.

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 ??  ?? Bd. 1, German. Nationalmu­seum (Hrsg.), Hatje Cantz Verlag, 2016, 563 Seiten, 98 Euro Schränke und Kommoden 1650–1800
Bd. 1, German. Nationalmu­seum (Hrsg.), Hatje Cantz Verlag, 2016, 563 Seiten, 98 Euro Schränke und Kommoden 1650–1800

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