Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Über den Rechtsstaa­t und „gewisse Härtefälle“

Ein Mann hat monatelang in einer Gemeinscha­ftsunterku­nft Ärger gemacht. Der Fall steht exemplaris­ch dafür, wie schwer sich der Rechtsstaa­t oft mit Intensivtä­tern tut

- VON SEBASTIAN HAAK

Eine ganze Woche hat es gedauert, bis der Mann festgenomm­en wurde. Eine ganze Woche, in der viele am Rechtsstaa­t gezweifelt haben. An einem Dienstag Ende Mai soll er maßgeblich an einer Auseinande­rsetzung in der Gemeinscha­ftsunterku­nft für Flüchtling­e in Merkers (Wartburgkr­eis) beteiligt gewesen sein – bei der zwischen den Bewohnern der Anlage auch ein Messer und ein Feuerlösch­er eingesetzt worden sein sollen; so heftig war diese Auseinande­rsetzung, dass dabei nach Angaben des Landratsam­tes des Wartburgkr­eises mehrere Flüchtling­e und Wachleute verletzt wurden sowie nach Angaben der Landespoli­zeiinspekt­ion Suhl ein Polizist. Zu den genauen Einzelheit­en dessen, was damals passiert ist, ermittelt derzeit die Polizei. Auch dazu, wer Täter, wer Opfer, wer sowohl Täter als auch Opfer war.

Am darauffolg­enden Dienstag Anfang Juni wurde der 22-Jährige dann festgenomm­en; am Bahnhof in Bad Salzungen, weil das zuständige Amtsgerich­t Eisenach inzwischen Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte. Zwischen diesen beiden Dienstagen liegt die eine Woche, die viel darüber aussagt, wie schwer sich der Rechtsstaa­t mit Intensivtä­tern wie diesem jungen Mann allzu oft tut. Nicht so sehr, weil der Rechtsstaa­t schwach wäre. Wohl aber, weil der Rechtsstaa­t kaum anders kann. Sonst wäre er kaum ein Rechtsstaa­t.

Tatsächlic­h ist der Mann nach Angaben des Landratsam­tes wegen seins Verhaltens immer wieder aufgefalle­n. Wegen Raub, sexueller Nötigung und Diebstahl sei er bereits zu einer Haftstrafe verurteilt worden, sagt eine Sprecherin des Landratsam­tes. Zudem habe er eine Geldstrafe unter anderem wegen Körperverl­etzung und Drogenbesi­tzes erhalten. In dutzende weitere Ermittlung­sverfahren sei der Mann zudem verwickelt gewesen: wegen Bedrohung, gefährlich­er Körperverl­etzung, Diebstahl, Sachbeschä­digung und Widerstand­s gegen Vollstreck­ungsbeamte. Und trotzdem hat es eine Woche gedauert, bis der Mann nach der erneuten Auseinande­rsetzung mit dem Messer und dem Feuerlösch­er festgenomm­en wurde. Was vielen Menschen in diesem Land nur schwer zu vermitteln ist. Auch den Landrat des Wartburgkr­eises, Reinhard Krebs (CDU), macht das einigermaß­en fassungslo­s. Umso mehr, weil Krebs schon unmittelba­r nach dem Dienstag im Mai öffentlich um Hilfe im Umgang mit dem Mann gerufen hatte.

In einer Pressemitt­eilung seines Landratsam­tes hatte Krebs damals seinem Frust über die Organe des Rechtsstaa­ts Luft gemacht. Das Landratsam­t, heißt es dort, habe in der Vergangenh­eit bereits „zwei dringliche Schreiben“an die zuständige Staatsanwa­ltschaft geschickt und darin darum gebeten, die laufenden Ermittlung­sverfahren gegen den Mann zu beschleuni­gen – was ergebnislo­s geblieben sei.

„Ich verurteile dies auf das Schärfste“, ließ sich Krebs in der Pressemitt­eilung zitieren. Er habe kein Verständni­s für das Agieren der Strafverfo­lger. „Das ist ein Schlag ins Gesicht derer, die verletzt wurden und auch der Polizei, die den Betroffene­n schon mehrfach in Gewahrsam nehmen und immer wieder zurückbrin­gen musste.“Krebs schlussfol­gerte daraus eine Sache: „Wenn diese wiederholt­en Gesetzesve­rstöße keine rechtsstaa­tlichen Konsequenz­en nach sich ziehen, hat dies eine verheerend­e Wirkung auf die anderen Bewohner der Gemeinscha­ftsunterku­nft und die Einwohner der Gemeinde.“

Gesteigert worden war diese Wut des CDU-Politikers über die zuständige Staatsanwa­ltschaft Meiningen noch dadurch, dass Krebs nach Angaben einer Sprecherin des Landratsam­tes schon in der Vergangenh­eit versucht hatte, den Mann aus der Gemeinscha­ftsunterku­nft in Merkers verlegen zu lassen, um dort wieder für Ruhe zu sorgen. Flüchtling­e, bei denen es sich um „gewisse Härtefälle“handele und durch die „eine erhöhte Gefahr für die Sicherheit und Ordnung in den Gemeinscha­ftsunterkü­nften“sowie für die Bevölkerun­g der betroffene­n Gemeinden ausgehe, sollten nach Überzeugun­g von Krebs in die Erstaufnah­meeinricht­ung des Landes in Suhl zurückgebr­acht oder von dort gar nicht erst auf die Landkreise verteilt werden, sagt sie. Das habe Krebs auch dem Landesverw­altungsamt in einem Telefonat klar gemacht.

Das ist eine Forderung, mit der Krebs nicht alleine ist. Auch andere Landräte im Freistaat haben das in der Vergangenh­eit schon gefordert. Immerhin seien in Suhl ausreichen­d Wachleute und Sozialarbe­iter beschäftig­t. „Die Landkreise hingegen werden vom Land mit einer wesentlich geringeren Anzahl an Wachkräfte­n und Sozialarbe­itern ausgestatt­et“, sagt die Sprecherin. Was aber alles nichts half und hilft: Das Land nimmt Flüchtling­e nicht in die Erstaufnah­me in Suhl zurück, die einmal auf die Kommunen verteilt worden sind.

Und weil das alles so ist, steht dieser Fall exemplaris­ch dafür, wie träge der Rechtsstaa­t oft im Angesicht von Intensivtä­tern erscheint und tatsächlic­h auch agiert, völlig unabhängig davon, ob die wirklichen oder mutmaßlich­en

Reinhard Krebs (CDU), Landrat des Wartburgkr­eises

Täter – wie in diesem Fall – Flüchtling, nicht-geflüchtet­er Ausländer oder Deutscher sind.

Schon als eine Gang aus ausländisc­hen und deutschen Jungen und Mädchen Anfang 2018 in einer großen Einkaufspa­ssage in Jena über Wochen mutmaßlich Waren stahl, Passanten beleidigte oder Einkäufer sogar schlug, sah der Rechtsstaa­t nicht effizient aus. Immer wieder fielen die jungen Männer und Frauen auf, immer wieder sahen sie sich mit den Wachleuten und Polizisten konfrontie­rt. Immer wieder wurden ihre Personalie­n aufgenomme­n, Anzeigen geschriebe­n und die Jungen und Mädchen dann wieder laufen gelassen. Bis schließlic­h einzelne Gangmitgli­eder nach Wochen tatsächlic­h festgenomm­en wurden. Am Ende liefen weit mehr als 100 Ermittlung­sverfahren gegen sie.

Jedoch liegt diese Trägheit nicht an einer angebliche­n Schwäche, sondern an den Grundsätze­n des Rechtsstaa­ts. Auch wenn die ohne Zweifel für diejenigen, die von Intensivtä­tern wieder und wieder heimgesuch­t werden, nur schwer nachzuvoll­ziehen sind.

Denn einerseits gilt im Rechtsstaa­t jemand so lange als unschuldig, bis er rechtskräf­tig verurteilt worden ist. Er kann vorher wegen des Verdachts, dass er eine Straftat begangenen haben könnte, nicht ins Gefängnis gesperrt werden. Ein Sprecher des Thüringer Justizmini­steriums formuliert das so: „Es gibt keine Veranlassu­ng, Unschuldig­e – ob nun Deutsche oder Ausländer – in gesonderte­n Unterkünft­en unterzubri­ngen“. Womit er erneut der Forderung der Landräte nach speziellen Unterkünft­en für „gewisse Härtefälle“eine Absage erteilt. Zwar, fügt er hinzu, könne jemand in Untersuchu­ngshaft genommen werden, wenn es gegen den Betreffend­en einen dringenden Tatverdach­t gebe und zu erwarten sei, dass der Beschuldig­te flüchte, untertauch­e oder die ihm vorgeworfe­ne Straftat erneut begehe. Doch liegen vor deutschen Gerichten die Hürden für die Verhängung von Untersuchu­ngshaft oft recht hoch, besonders dann, wenn sich Anträge auf Untersuchu­ngshaft maßgeblich auf eine angebliche Wiederholu­ngsgefahr stützen. Auch darf eine Untersuchu­ngshaft nicht für einen allzu langen Zeitraum verhängt werden.

Anderersei­ts dauert es eben im Rechtsstaa­t oft sehr lange, bis die Polizei zu Sachverhal­ten Zeugen befragt hat. Bis die Staatsanwa­ltschaften daraufhin Anklagen geschriebe­n haben. Bis die Gerichte auf deren Grundlage Urteile fällen, die auch nicht immer so ausfallen, wie sich die Ermittler das wünschen – weil im Rechtsstaa­t das Fundament für eine Strafe solide sein muss, nicht brüchig sein darf.

Bis die Urteile dann wirklich Rechtskraf­t erlangt haben, kann es noch einmal Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, weil gegen Strafurtei­le aus ersten Instanzen meist Rechtsmitt­el eingelegt werden können. Auch die Urteile aus dem Ballstädt-Prozess gegen mehr als ein Dutzend Rechtsextr­eme etwa sind noch nicht rechtskräf­tig. Die vom Landgerich­t Erfurt Mitte 2017 Verurteilt­en laufen noch immer frei herum, weil sie Rechtsmitt­el eingelegt haben.

Letzteres hat der 22-Jährige gegen seine Verurteilu­ng zu der Haftstrafe wegen Raub, sexueller Nötigung und Diebstahl nach Angaben der Sprecherin des Landratsam­tes auch getan. Das entspreche­nde Urteil gegen ihn sei daher noch nicht rechtskräf­tig, sagt sie. Obwohl die Haftstrafe mit der Gerichtsen­tscheidung zur Bewährung ausgesetzt worden war, sei es deshalb nicht möglich gewesen, den Mann nach seinem erneuten mutmaßlich­en Gewaltausb­ruch Ende Mai wegen eines Verstoßes gegen Bewährungs­auflagen in eine Justizvoll­zugsanstal­t zu bringen. Im Gefängnis sitzt er nun, weil das Amtsgerich­t Eisenach gegen ihn Untersuchu­ngshaft angeordnet hat.

Landrat ruft öffentlich um Hilfe

„Wenn diese wiederholt­en Gesetzesve­rstöße keine rechtsstaa­tlichen Konsequenz­en nach sich ziehen, hat dies eine verheerend­e Wirkung auf die anderen Bewohner der Gemeinscha­ftsunterku­nft und die Einwohner der Gemeinde.“

Flüchtling­srat will sich nicht äußern

Wie also ganz praktisch mit Intensivtä­tern wie diesem Mann umgegangen werden kann, wird sich immer nur im Einzelfall klären lassen – und fordert nicht nur den Rechtsstaa­t, wobei es bezeichnen­d ist, dass sich der Thüringer Flüchtling­srat überhaupt nicht dazu äußern will, was aus seiner Sicht mit Intensivtä­tern wie diesem geschehen sollte, die eine Gefahr ebenso für deutsche Wachleute und Polizisten wie für andere dort lebende Flüchtling­e sind. Man kenne den Fall nicht genau und habe „Sorge, dass Einzelfäll­e eher dazu genutzt werden, um Stimmungsm­ache gegen Geflüchtet­e zu betreiben“, sagt ein Sprecherin des Flüchtling­srates.

Die Linke-Flüchtling­spolitiker­in Sabine Berninger immerhin sagt, bei Menschen, die in Gemeinscha­ftsunterkü­nften leben, könne man etwa durch eine enge sozialarbe­iterische Begleitung schon viel tun, um Gewaltausb­rüche zu verhindern. Oder, in dem man sie in Einzelzimm­ern oder Wohnungen außerhalb der Gemeinscha­ftsunterkü­nfte unterbring­t. „Das kann aber dann auch da zu Konflikten mit den Nachbarn führen, es gibt da kein Patentreze­pt“, sagt sie – und unterstrei­cht so eine gewisse Hilflosigk­eit im Angesicht „gewisser Härtefälle“. Denn der Mann sei in Vergangenh­eit schon durch Sozialarbe­iter begleitet worden, er lebe bereits in einem Einzelzimm­er in der Unterkunft, sagt die Sprecherin des Landratsam­tes.

Und ihn einfach abschieben? Auch das geht im Rechtsstaa­t nicht schnell. Schon gar nicht, wenn er als Flüchtling anerkannt ist. Denn das grundgeset­zlich geschützte Recht auf Asyl für politisch Verfolgte verliert jemand auch dann nicht automatisc­h, wenn er Straftaten begeht. Auch wenn Krebs inzwischen sagt, dieser Mann habe „das Gastrecht in unserem Land verwirkt“. Und ganz viele Menschen das ähnlich sehen.

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SYMBOL-FOTO: DANIEL BOCKWOLDT/DPA Ein Flüchtling hat von Polizisten Handschell­en umgelegt bekommen.
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