Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Tiefensee: „Groko“-Fortsetzung liegt auch an CDU
SPD-Landeschef: „Zeit der Selbstbeschäftigung“vorbei. Mohring (CDU): Regierung hat viel Arbeit
Die Zweifel an der Großen Koalition im Bund bleiben stark: Thüringens SPD-Chef Wolfgang Tiefensee geht davon aus, dass auf dem Bundesparteitag eine finale Entscheidung zur Fortsetzung des Berliner Regierungsbündnisses gefällt wird. Er schiebt der CDU/CSU eine Mitverantwortung dafür zu, ob die „Groko“fortbesteht. „Die Mitglieder wollen, dass die SPD wieder mehr Kante zeigt und dies bei ihren Kernthemen in eine Politik übersetzt, die das Leben der Vielen besser macht“, sagt der Sozialdemokrat. Ob das in der Großen Koalition umsetzbar sei, „werden wir auf unserem Parteitag diskutieren und dann hängt es auch vom Verhalten der CDU/CSU ab, ob wir die Regierung fortführen können“. Nachdem Mitgliederentscheid für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als neues Führungsduo der Partei wird bundesweit darüber spekuliert, was das für den Fortbestand der Bundesregierung bedeuten könnte. Beide sind ausgemachte Gegner der Koalition.
Thüringens CDU-Chef Mike Mohring hofft auf ein Ende der Debatte um den Fortbestand der „Groko“. „Wer sich wählen lässt, der muss bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Es liegt viel Arbeit vor der Bundesregierung“, sagte er. Er hoffe, dass das „permanente Hinterfragen“jetzt aufhöre.
Das siegreiche Duo war im Willy-Brandt-Haus heiß begehrt. Nachdem im Atrium der SPD-Zentrale der überraschend deutliche Coup der Außenseiter über das Establishment verkündet worden war, machten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans eine Runde durch das riesige, gläserne Haus.
Dass sie noch keinen erkennbaren Plan haben, was sie mit der SPD und der großen Koalition vorhaben? Schwamm drüber, sagten sich viele Genossen an der Basis. Hauptsache, kein Weiter-so mit Scholz, lautete die Botschaft, die sich durchsetzte. Was sind das für Persönlichkeiten, wie ticken „Nowabo“, wie Borjans genannt wird, und Esken, die mit dem Schlachtruf einer „Eskabolation“viele Anhänger aus dem linken Flügel erfolgreich mobilisierten?
Norbert Walter-Borjans war schon Polit-Rentner, jetzt wird er Boss der ältesten deutschen Partei. 2017 hatten die Wähler ihn und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft bei der NRW-Landtagswahl abgestraft und nach Hause geschickt. Sieben Jahre war Nowabo zuvor Finanzminister in Düsseldorf. Gleich dreimal scheiterte seine Haushaltsplanung vor Gericht. Der von der Opposition als „Rekordschuldenminister“Geschmähte hatte die Neuverschuldung weit über der Investitionssumme des Landes angesetzt. Das wäre aber nur in einer Notsituation erlaubt gewesen.
Einmal konnte er vor der Presse nicht erklären, woher 1,3 Milliarden Euro Minderausgaben kamen, die er im Haushalt „gefunden“hatte. Auch die Abwicklung der Landesbank WestLB gehörte nicht zu seinen Sternstunden. Aber am Ende stand Nowabo dennoch gut da. Er brachte das Kunststück fertig, sich vom Schuldenkönig in den „Robin Hood der Steuerzahler“zu verwandeln. Als Minister ließ Walter-Borjans elf Steuer-CDs ankaufen, die dem Fiskus über sieben Milliarden Euro einbrachten und Zigtausende Steuerbetrüger zu Selbstanzeigen veranlassten. Auch der mächtige Bayern-Boss und Steuerhinterzieher Uli Hoeneß knickte vor diesem Druck ein.
Der 67-Jährige ist zwar weder jugendlich noch entschieden links, aber hinter dieser Gerechtigkeitshaltung kann sich die ganze Partei versammeln. Er wolle „versöhnen statt spalten“, rief Nowabo am Samstag der Partei zu. Das war das Lebensmotto seines großen Vorbilds Johannes Rau. Für „Bruder Johannes“, den langjährigen NRWMinisterpräsidenten und späteren Bundespräsidenten, arbeitete Borjans als Pressesprecher. Aber jetzt auf den Schleudersitz in Berlin?
Nowabo hat noch nie eine Wahl gewonnen, saß nie im Landtag. Die Erwartungshaltung der Basis ist riesig. Er muss aufpassen, dass es ihm nicht wie Martin Schulz ergeht. Der einstige Kanzlerkandidat und 100Prozent-Vorsitzende war in der
Hauptstadt schlecht vernetzt, unterschätzte die Herausforderung und konnte sich nicht lange halten. So zweifeln viele in der aktuellen SPD-Spitze, dass Nowabo weiß, was auf ihn zukommt. Harsche Kritik musste er für seine Aussage einstecken, die SPD brauche in der aktuellen Umfragelage gar keinen Kanzlerkandidaten aufstellen. Kurz darauf ruderte er zurück.
Nun müssen Esken und er die SPD vor einer Spaltung bewahren und auf das Scholz-Lager zugehen. Zugleich müssen sie dem No-GroKo-Lager auf dem Parteitag am kommenden Wochenende etwas bieten. Ein Update des Koalitionsvertrages? Das sollen weitere Milliardeninvestitionen in Klima, Straßen, Schulen und ein Mindestlohn von zwölf Euro sein. Bleibt die SPD noch eine Weile in der GroKo, muss Nowabo sich mit dem unterlegenen Finanzminister Olaf Scholz arrangieren.
Wie denkt Saskia Esken über die GroKo-Zukunft? Am Samstag reckte sie im Willy-Brandt-Haus die geballte linke Faust in die Höhe, den Kampfgruß der Kommunisten. Mehr linke Symbolik geht nicht. Bevor sie richtig feiern konnte, wartete ein ARD-Interview. Wie fühlt sich das an, bald in der Ahnengalerie neben Willy Brandt & Co. zu stehen? „Das sind schon sehr, sehr große Fußstapfen, in die mich da begebe. Ich bin zuversichtlich, dass ich das mit einem guten Team auch gut bewältigen kann.“Will die Parteilinke so schnell wie möglich raus aus der GroKo?
Da wurde Esken doch etwas kleinlauter als auf den Regionalkonferenzen. Sie und Walter-Borjans planten „keinen Alleingang“, sondern einen gemeinsamen Kurs mit der Bundestagsfraktion und den SPD-Ministern. Auf diesen Konsens darf man gespannt sein. Denn die Minister und Abgeordneten wollen keine rasche Neuwahl mit drohendem Arbeitsplatzverlust. Wenn die Union hart bleibt und keine Zugeständnisse macht, was dann? „Wir werden beim Parteitag diskutieren, wie wir damit umzugehen haben.“Für die Demokratie sei die große Koalition jedenfalls „auch Mist“. So richtig schlau wird man nicht aus der Frau aus dem Ländle.
Die verheiratete Mutter dreier erwachsener Kinder sitzt seit 2013 im Bundestag. Geboren in Stuttgart, aufgewachsen im Kreis Böblingen, wurde sie vom Engagement ihrer Eltern geprägt. Sie arbeitete zunächst in der Gastronomie, als Fahrerin und Schreibkraft. Später schloss sie eine Ausbildung zur Informatikerin ab. Von 2013 bis 2015 war sie Vizechefin der SüdwestSPD.
Die 58 Jahre alte Digitalexpertin redet geradeaus, ist authentisch. „Schwertgosch“, würde man auf Schwäbisch über sie sagen. Kurz vor dem Ende der Stichwahl war sie beim ZDF-Talker Markus Lanz zu Gast. Esken ließ sich in die Aussage hineinmanövrieren, Scholz sei kein standhafter Sozialdemokrat. Das war ein Foulspiel. Esken erkannte das selbst: „Ich habe mich in der Hitze der Schlussphase zu einer Aussage hinreißen lassen, die so nicht stehen bleiben darf, und ich werde mich auch persönlich dafür entschuldigen“, twitterte sie. Esken wird lernen müssen, dass als SPDChefin jede Äußerung sitzen muss.
„Das sind schon sehr, sehr große Fußstapfen, in die ich mich da begebe.“Saskia Esken, künftige SPD-Chef