Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Zerreißprobe für die große Koalition
Das Ergebnis des SPD-Mitgliederentscheids erschüttert die Bundesregierung. Die wichtigsten Fragen und Antworten
Es war ein Paukenschlag, der lange nachhallen wird. Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans gewinnen den Mitgliederentscheid zum SPD-Vorsitz, Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz unterliegt deutlich. Es könnte der Anfang vom Ende der letzten Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sei. Was passiert nun in den nächsten Wochen? Ein Überblick:
Wann übernehmen Esken und Walter-Borjans die Geschäfte in der SPD?
Alle Augen richten sich auf den SPD-Parteitag, der vom 6. bis zum 9. Dezember in Berlin stattfindet. Die Delegierten sollen die beiden Neuen am Freitag bestätigen – dass sie das tun, daran gibt es keine Zweifel. Theoretisch könnte es Kampfkandidaturen geben. Doch nach 23 Regionalkonferenzen und zwei Wahlgängen wäre das eine zu große Missachtung des Willens der Basis. Altkanzler Gerhard Schröder kritisiert die Mitgliederabstimmung über die neuen SPD-Chefs unterdessen heftig. „Ich habe das Verfahren für unglücklich gehalten und das Ergebnis bestätigt meine Skepsis“, sagte er dem „Spiegel“.
Was wird aus Olaf Scholz?
Trotz seiner Niederlage im Rennen um den SPD-Vorsitz will Scholz Finanzminister und Vizekanzler bleiben. Das erfuhr unsere Redaktion aus seinem unmittelbaren Umfeld. Im Willy-Brandt-Haus sicherte er mit versteinerter Miene dem Siegerduo seine Solidarität zu.
Führen Esken und Walter-Borjans die SPD aus der Koalition?
Einen überstürzten Ausstieg aus dem Bündnis strebt das Duo nicht an. Den entscheidenden Antrag für den Parteitag wollen die SPD-Gremien am Dienstag und Donnerstag formulieren. Bis dahin wird fieberhaft um Formulierungen gerungen, wie eine Entscheidung zur künftigen Koalition aussehen kann. Ein unmittelbares Aus wird auch die designierte Parteiführung den Delegierten nicht empfehlen. Doch die erwünschte Erneuerung nur ins Programm schreiben ohne konkrete Auswirkungen auf die Arbeit in der Regierung – das wird nicht mehr reichen. Die Frage ist, ob der Parteitag die Latte für einen Fortbestand der Koalition so hoch legt, dass die Union quasi nicht mehr mitgehen kann. Denn der mächtige Unterstützer der beiden Neuen an der SPD-Spitze ist der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert, ein strammer GroKo-Gegner. Esken und Walter-Borjans wollen den Koalitionsvertrag neu verhandeln: Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und staatliche
Investitionen sollen Kernpfeiler künftigen sozialdemokratischen Regierungshandelns sein. „Wenn damit eine Kanzlerin nicht umgehen kann, ist ein Risiko für die Koalition“, sagte Walter-Borjans. Immerhin müsse man doch zur Kenntnis nehmen, dass die SPD in den schwarz-roten Jahren auf 13 Prozent geschrumpft sei. Doch er sagt auch, dass 45 Prozent die anderen
Kandidaten gewählt hätten – da sei es schon die Aufgabe „gemeinsame Positionen“zu finden. So kündigte etwa Generalsekretär Klingbeil, der sein Amt behalten will, an: „Das ist kein Votum für einen Austritt aus der großen Koalition. Wie es weitergeht, wird der Parteitag gemeinsam mit den designierten Vorsitzenden, der Bundestagsfraktion und den Ministern beraten.“
Wie reagiert der Koalitionspartner?
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer machte am Sonntag klar, dass Nachverhandlungen für sie erst einmal nicht infrage kommen. Die „Geschäftsgrundlage“sei der Koalitionsvertrag. „Wir stehen zu dieser Koalition auf der Grundlage, die verhandelt ist“, sagte AKK. Sie finde es gut, dass die SPD jetzt eine Entscheidung getroffen habe. „Das macht den Weg frei, um zur Sacharbeit zurückzukehren“, sagte sie. CDU-Vizin Julia Klöckner schloss eine Überarbeitung des Koalitionsvertrags aus. „Ein einseitiges Nachverhandeln, nur weil die SPD-Spitze gewechselt hat, wird es mit der Union nicht geben“, sagte sie unserer Redaktion. „Auch wir haben unsere Überzeugungen, für die wir gewählt worden sind. Wir sind vertragstreu und werden jetzt nicht mehr Geld ausgeben als erwirtschaftet wurde.“Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen sagte unserer Redaktion, eine andauernde Hängepartie wäre „katastrophal für alle“. Die CSU warnte die SPD vor einem Austritt.
Gäbe es automatisch Neuwahlen, wenn die SPD die Koalition verlässt?
Ein schnelles GroKo-Aus dürfte es nach Lage der Dinge erst mal nicht geben. Doch wenn die SPD ihre Minister aus der Regierung abziehen sollte, könnte Kanzlerin Merkel versuchen, mit einer Minderheitsregierung weiterzumachen. Deutschland übernimmt im zweiten Halbjahr 2020 die EU-Ratspräsidentschaft – das spricht gegen Neuwahlen unmittelbar davor. In Koalitionskreisen wird davon ausgegangen, dass es kurz nach dem SPDParteitag einen Koalitionsausschuss geben wird. Unklar ist noch, wie die SPD-Fraktion reagiert. In ihr ist die Bereitschaft zum Ausstieg aus der großen Koalition viel geringer als an der Basis.