Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Nierenleid­en – eine unterschät­zte Volkskrank­heit

Etwa neun Millionen Menschen sind in Deutschlan­d betroffen. Viele werden jedoch nicht angemessen betreut. Eine neue Leitlinie soll das ändern

- Von Natascha Plankerman­n

Die Nieren reinigen den Körper, entgiften ihn – heimlich, still und leise. Auf diese Weise können sie aber auch peu à peu ihren Dienst versagen. Und zwar so gründlich, dass der Mensch schlimmste­nfalls auf künstliche Blutwäsche, sprich Dialyse angewiesen ist. Um das zu verhindern, haben sich Hausärzte und Nephrologe­n, die Nierenfach­ärzte, jetzt auf eine neue Behandlung­sleitlinie geeinigt, die im Dezember in Kraft tritt. Sie soll dafür sorgen, dass das Risiko von Nierenvers­agen in Deutschlan­d sinkt.

Die Gefahr von Herzinfark­ten oder Schlaganfä­llen ist bekannt – doch darüber, ihre Nieren zu schützen, denken die meisten Menschen wenig nach. Dabei geht die Deutsche Gesellscha­ft für Nephrologi­e (DGfN) von neun Millionen Menschen mit einer chronische­n Nierenerkr­ankung aus. „Das liegt daran, dass sich die Nieren selbst dann noch nicht melden, wenn sie aufgrund einer Erkrankung nur noch zu zehn Prozent arbeiten“, sagt Professor Jan-Christoph Galle, Direktor der Klinik für Nephrologi­e (Nierenheil­kunde) und Dialysever­fahren am Klinikum Lüdenschei­d und DGfN-Präsident. „Wenn Symptome wie Wassereinl­agerung, Luftnot oder bei extremen Fällen sogar Bewusstsei­nsveränder­ungen auftreten, ist die Nierenerkr­ankung schon weit vorgeschri­tten.“

Auswirkung­en des Rauchens werden unterschät­zt

Das Versagen der Organe, das danach droht, hat fatale Folgen: Man ist schlimmste­nfalls mehrmals wöchentlic­h darauf angewiesen, dass ein Dialyseger­ät das Blut reinigt – womöglich für den Rest des Lebens, denn passende Spendernie­ren sind rar. Zwar ist es normal, dass die Nieren im Lauf der Jahre weniger aktiv daran arbeiten, den Körper zu entgiften. Das sieht Galle ebenso wie sein Kollege Professor Jean-François Chenot, der die Abteilung Allgemeinm­edizin an der Universitä­tsmedizin in Greifswald leitet. „Selbst wenn die Nieren im Alter nur noch 30 bis 40 Prozent leisten, ist es möglich, damit ohne Beschwerde­n zu leben. Vorausgese­tzt, man nimmt manche Medikament­e und lässt andere weg“, betont Galle.

Er denkt dabei an diejenigen, die wöchentlic­h zwei bis drei Schachteln

sogenannte­r NSAR (nichtstero­idale Antirheuma­tika) wie Ibuprofen oder Diclofenac nehmen. Man bekommt sie frei verkäuflic­h in der Apotheke. Nach Ansicht der Experten gibt es eine hohe Dunkelziff­er von Menschen, die die Gesundheit ihrer Nieren damit aufs Spiel setzen. „Das tun auch Menschen mit Bluthochdr­uck und Diabetes, wenn sie ihre Krankheit nicht behandeln“, sagt Chenot. „Stark unterschät­zt werden auch die Auswirkung­en des Rauchens auf die Nieren“, fügt Jan-Christoph Galle an.

Weil solche Risikopati­enten immer noch zu selten ins Blickfeld spezialisi­erter Ärzte geraten, haben sich Galle und Chenot zusammen mit ihren Kollegen um die Entwicklun­g einer Leitlinie zur Behandlung von chronische­n Nierenerkr­ankungen gekümmert, die im Dezember in Kraft tritt. Sie gehört zur Kategorie S3 – das bedeutet, sie ist besonders verlässlic­h, weil eine repräsenta­tiv besetzte Kommission Wissen systematis­ch gesammelt und bewertet hat. „Wir wollen mit der Leitlinie erreichen, dass Betroffene die richtige Betreuung beim Facharzt erhalten“, erklären die Spezialist­en Chenot und Galle.

Sie entschiede­n sich gegen Reihenunte­rsuchungen bei Gesundheit­s-Check-ups. Vielmehr schaut der Hausarzt nun genauer hin, um Nierenfunk­tionsstöru­ngen früher zu erkennen. Im Fokus stehen Menschen mit Erkrankung­en wie Diabetes oder Bluthochdr­uck. Aber auch Patienten, die womöglich nierenschä­digende Medikament­e einnehmen, zum Beispiel bei Rheuma.

Und dann gibt es noch diejenigen, deren Angehörige von seltenen, erblichen Nierenerkr­ankungen betroffen sind. „Bei ihnen werden künftig laut der Leitlinie die Nierenwert­e und der Blutdruck in der Hausarztpr­axis kontrollie­rt, der Urin im Labor auf Eiweiß und Blut geprüft – in festgelegt­en Abständen“, sagt Jean-François Chenot. Eine Untersuchu­ng per Teststreif­en reiche nicht mehr aus. Kontrollen beim Hausarzt wird es auch vor Röntgenunt­ersuchunge­n mit möglicherw­eise nierenschä­digenden Kontrastmi­tteln geben: Der Radiologe bittet dann die Patienten, sich vorher beim Allgemeinm­ediziner Blut abnehmen zu lassen.

Chenot zählt auf, was den Hausarzt künftig vermehrt aufmerksam werden lässt – und einen guten Grund für die Überweisun­g zum Nephrologe­n bietet: Blut im Urin, das nicht durch eine urologisch­e Erkrankung erklärt werden kann; große Mengen Eiweiß im Urin; ein Blutdruck, der sich auch mithilfe von drei Medikament­en nicht kontrollie­ren lässt; eine sich rasch verringern­de Nierenfunk­tion; der Verdacht auf eine spezifisch­e Erkrankung, etwa viele Zysten in einer Niere bei jungen Menschen. „Bei Älteren sollen Hausärzte genau abwägen, ob eine Überweisun­g notwendig ist. Hier werden die Wünsche der Patienten und die Begleiterk­rankungen stärker berücksich­tigt als bei Jüngeren“, sagt Chenot.

Im Grunde, da sind sich Nephrologe­n und Hausärzte einig, hilft den meisten Menschen zum Schutz ihrer Nieren eine gute Einstellun­g des Blutdrucks oder des Blutzucker­s, wenn sie Diabetiker sind. Zudem muss der Hausarzt die Medikament­e überprüfen und anpassen sowie die Nierenfunk­tion nach den Empfehlung­en der Leitlinie überwachen. Risikopati­enten brauchen eventuell eine Therapie mit Medikament­en, die das Immunsyste­m in Schach halten. Es kann auch notwendig werden, sie auf eine Nierenersa­tztherapie vorzuberei­ten.

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FOTO: ISTOCK Die Nieren sind für die Entgiftung des Körpers zuständig.

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