Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Nierenleiden – eine unterschätzte Volkskrankheit
Etwa neun Millionen Menschen sind in Deutschland betroffen. Viele werden jedoch nicht angemessen betreut. Eine neue Leitlinie soll das ändern
Die Nieren reinigen den Körper, entgiften ihn – heimlich, still und leise. Auf diese Weise können sie aber auch peu à peu ihren Dienst versagen. Und zwar so gründlich, dass der Mensch schlimmstenfalls auf künstliche Blutwäsche, sprich Dialyse angewiesen ist. Um das zu verhindern, haben sich Hausärzte und Nephrologen, die Nierenfachärzte, jetzt auf eine neue Behandlungsleitlinie geeinigt, die im Dezember in Kraft tritt. Sie soll dafür sorgen, dass das Risiko von Nierenversagen in Deutschland sinkt.
Die Gefahr von Herzinfarkten oder Schlaganfällen ist bekannt – doch darüber, ihre Nieren zu schützen, denken die meisten Menschen wenig nach. Dabei geht die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie (DGfN) von neun Millionen Menschen mit einer chronischen Nierenerkrankung aus. „Das liegt daran, dass sich die Nieren selbst dann noch nicht melden, wenn sie aufgrund einer Erkrankung nur noch zu zehn Prozent arbeiten“, sagt Professor Jan-Christoph Galle, Direktor der Klinik für Nephrologie (Nierenheilkunde) und Dialyseverfahren am Klinikum Lüdenscheid und DGfN-Präsident. „Wenn Symptome wie Wassereinlagerung, Luftnot oder bei extremen Fällen sogar Bewusstseinsveränderungen auftreten, ist die Nierenerkrankung schon weit vorgeschritten.“
Auswirkungen des Rauchens werden unterschätzt
Das Versagen der Organe, das danach droht, hat fatale Folgen: Man ist schlimmstenfalls mehrmals wöchentlich darauf angewiesen, dass ein Dialysegerät das Blut reinigt – womöglich für den Rest des Lebens, denn passende Spendernieren sind rar. Zwar ist es normal, dass die Nieren im Lauf der Jahre weniger aktiv daran arbeiten, den Körper zu entgiften. Das sieht Galle ebenso wie sein Kollege Professor Jean-François Chenot, der die Abteilung Allgemeinmedizin an der Universitätsmedizin in Greifswald leitet. „Selbst wenn die Nieren im Alter nur noch 30 bis 40 Prozent leisten, ist es möglich, damit ohne Beschwerden zu leben. Vorausgesetzt, man nimmt manche Medikamente und lässt andere weg“, betont Galle.
Er denkt dabei an diejenigen, die wöchentlich zwei bis drei Schachteln
sogenannter NSAR (nichtsteroidale Antirheumatika) wie Ibuprofen oder Diclofenac nehmen. Man bekommt sie frei verkäuflich in der Apotheke. Nach Ansicht der Experten gibt es eine hohe Dunkelziffer von Menschen, die die Gesundheit ihrer Nieren damit aufs Spiel setzen. „Das tun auch Menschen mit Bluthochdruck und Diabetes, wenn sie ihre Krankheit nicht behandeln“, sagt Chenot. „Stark unterschätzt werden auch die Auswirkungen des Rauchens auf die Nieren“, fügt Jan-Christoph Galle an.
Weil solche Risikopatienten immer noch zu selten ins Blickfeld spezialisierter Ärzte geraten, haben sich Galle und Chenot zusammen mit ihren Kollegen um die Entwicklung einer Leitlinie zur Behandlung von chronischen Nierenerkrankungen gekümmert, die im Dezember in Kraft tritt. Sie gehört zur Kategorie S3 – das bedeutet, sie ist besonders verlässlich, weil eine repräsentativ besetzte Kommission Wissen systematisch gesammelt und bewertet hat. „Wir wollen mit der Leitlinie erreichen, dass Betroffene die richtige Betreuung beim Facharzt erhalten“, erklären die Spezialisten Chenot und Galle.
Sie entschieden sich gegen Reihenuntersuchungen bei Gesundheits-Check-ups. Vielmehr schaut der Hausarzt nun genauer hin, um Nierenfunktionsstörungen früher zu erkennen. Im Fokus stehen Menschen mit Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck. Aber auch Patienten, die womöglich nierenschädigende Medikamente einnehmen, zum Beispiel bei Rheuma.
Und dann gibt es noch diejenigen, deren Angehörige von seltenen, erblichen Nierenerkrankungen betroffen sind. „Bei ihnen werden künftig laut der Leitlinie die Nierenwerte und der Blutdruck in der Hausarztpraxis kontrolliert, der Urin im Labor auf Eiweiß und Blut geprüft – in festgelegten Abständen“, sagt Jean-François Chenot. Eine Untersuchung per Teststreifen reiche nicht mehr aus. Kontrollen beim Hausarzt wird es auch vor Röntgenuntersuchungen mit möglicherweise nierenschädigenden Kontrastmitteln geben: Der Radiologe bittet dann die Patienten, sich vorher beim Allgemeinmediziner Blut abnehmen zu lassen.
Chenot zählt auf, was den Hausarzt künftig vermehrt aufmerksam werden lässt – und einen guten Grund für die Überweisung zum Nephrologen bietet: Blut im Urin, das nicht durch eine urologische Erkrankung erklärt werden kann; große Mengen Eiweiß im Urin; ein Blutdruck, der sich auch mithilfe von drei Medikamenten nicht kontrollieren lässt; eine sich rasch verringernde Nierenfunktion; der Verdacht auf eine spezifische Erkrankung, etwa viele Zysten in einer Niere bei jungen Menschen. „Bei Älteren sollen Hausärzte genau abwägen, ob eine Überweisung notwendig ist. Hier werden die Wünsche der Patienten und die Begleiterkrankungen stärker berücksichtigt als bei Jüngeren“, sagt Chenot.
Im Grunde, da sind sich Nephrologen und Hausärzte einig, hilft den meisten Menschen zum Schutz ihrer Nieren eine gute Einstellung des Blutdrucks oder des Blutzuckers, wenn sie Diabetiker sind. Zudem muss der Hausarzt die Medikamente überprüfen und anpassen sowie die Nierenfunktion nach den Empfehlungen der Leitlinie überwachen. Risikopatienten brauchen eventuell eine Therapie mit Medikamenten, die das Immunsystem in Schach halten. Es kann auch notwendig werden, sie auf eine Nierenersatztherapie vorzubereiten.