Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Ich fühle mich in der Rolle eines wirklich besorgten Bürgers

Der Hilferuf geht bei der AfD an die falsche Adresse. Der Klimawande­l wird die bereits sichtbaren Migrations­bewegungen beschleuni­gen

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Zur aktuellen Gefühlslag­e und zur politische­n Situation:

Familie Guse aus Blankenhai­n beklagt zurecht die soziale Ungerechti­gkeit nach der Wiedervere­inigung. Hilfe sollte sie jedoch eher bei denen suchen, die genau dies kritisiere­n und bekämpfen. Aber nein: „Die AfD sehen wir als Hilferuf“– ein Satz, den zu lesen, mir äußerst schwer fällt. Ich fühle mich dabei in der Rolle eines wirklich besorgten Bürgers.

Klar, dieser Begriff ist bereits vergeben, genau an jene, die ausgerechn­et von der AfD „Hilfe“erwarten. Wie soll diese Hilfe eigentlich konkret aussehen?Die Rede ist von einem Problem, dass wir seit 2015 hätten, gemeint ist die sogenannte Flüchtling­skrise. Krise ist der falsche Begriff, denn die Migration wird noch in ganz anderen Dimensione­n stattfinde­n, wenn die Weltgemein­schaft nicht umsteuert. Die globale Entwicklun­g der Menschheit mit der immer noch nicht aufgearbei­teten Kolonialge­schichte macht deutlich, wer bis heute Gewinner und Verlierer sind. Auf welcher Seite wir – in einem hochentwic­kelten Industriel­and – stehen und zu wessen Lasten wir unseren Wohlstand ausleben, sollte uns jede Sekunde bewusst sein. Relativ neu sind die Auswirkung­en des Klimawande­ls, die – bereits sichtbar – Migrations­bewegungen beschleuni­gen werden. Da mit Abschottun­g zu argumentie­ren, ist geradezu lächerlich. Und diese Forderung kommt genau von der Partei, die den menschenge­machten Klimawande­l leugnet.

Ein weiterer Punkt: Die hochgelobt­e soziale Marktwirts­chaft ist bei weitem nicht so sozial wie sie verspricht. „Sozialismu­s“ist nach dem Zerfall des Ostblocks ja zu Unwort geworden. Nun sollte der Markt alles richten, und die Ostdeutsch­en leisteten ihren Beitrag: sie kämpften für die D-Mark, für den Umtauschku­rs 1:1 und sie kauften mit dem neuen Geld die neuen Waren, Ostprodukt­e blieben im Regal liegen. Dem Einheitska­nzler wurde vertraut. Aber statt der blühenden Landschaft­en wuchsen zuerst die Arbeitslos­igkeit und die soziale Spaltung.

Einige Beispiele: Senkung des Spitzenste­uersatzes, Erhöhung der Mehrwertst­euer, Agenda 2010 mit dem Satz des damaligen Kanzlers Schröder: „Wir haben einen der besten Niedrigloh­nsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“Die neoliberal­e Politik war endlich auch im vereinigte­n Deutschlan­d angekommen, die Reichen wurde reicher, die Armen ärmer. Die Unzufriede­nheit der Menschen, besonders im Osten, wurde unüberhörb­ar. Als Alternativ­e für Deutschlan­d hätte ich mir mehr soziale Gerechtigk­eit,

eine Abkehr von der neoliberal­en Politik und wirksame Maßnahmen für den Klimawande­l gewünscht. Mehr oder weniger waren dazu Forderunge­n in verschiede­nen Parteiprog­rammen zu finden. Unbeirrt regierte jedoch das „Weiter so“, bis 2015 und bis heute. Der berühmte Satz der Kanzlerin „Wir schaffen das“spülte plötzlich eine Alternativ­e an die Oberfläche, die auf alle aufgestaut­en Probleme eine völlig andere Antwort hatte: nicht soziale Ungerechti­gkeit, neoliberal­e Politik und Klimawande­l bedrohen uns, sondern Migranten. Neue Schuldige waren gefunden. Das ist nicht nur lächerlich, das ist gefährlich für den Zusammenha­lt der Menschen auf unserem Planeten.

Dieter Stompe, Erfurt

 ?? FOTO: PEER GRIMM / DPA ?? Der damalige Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (SPD) – hier am Steuer – hat zur Erosion der sozialen Marktwirts­chaft beigetrage­n.
FOTO: PEER GRIMM / DPA Der damalige Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (SPD) – hier am Steuer – hat zur Erosion der sozialen Marktwirts­chaft beigetrage­n.

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