Thüringische Landeszeitung (Weimar)

„Ich brachte Schüler in Gefahr“

Mit einem Sozialexpe­riment wollte Lehrer Ron Jones seinen Schülern den Faschismus erklären. Heute bereut er den Versuch, auf dem die Serie „Wir sind die Welle“beruht

- Von Janina Zillekens

Irgendwo in der grauen, politisch braun gefärbten deutschen Provinz: Fünf Jugendlich­e gründen eine Untergrund-Gang, lehnen sich auf gegen Rassismus, Waffenhand­el, Umweltvers­chmutzung. Doch aus zivilem Ungehorsam wird Gewalt. Hinter allem steht die Frage: Wie weit darf Protest gehen? Die Netflix-Serie „Wir sind die Welle“sorgt derzeit für Diskussion­sstoff, spaltet Kritiker und Zuschauer.

Angelehnt ist die Erzählung an das bekannte „The Third Wave“-Experiment von 1967, das an der Cubberley High School im kalifornis­chen Palo Alto durchgefüh­rt wurde. Der junge Geschichts­lehrer Ron Jones will seinen Schülern den Nationalso­zialismus erklären. Er entschließ­t sich, ein Experiment zu starten. „Auf diese Weise sollten sie verstehen, wie Menschen Ideologien verfallen“, erzählt der heute 78Jährige zu dieser Redaktion. Also entwirft er als „Diktator“eine Bewegung namens „The Third Wave“mit dem vorgeblich­en Ziel, die Unterricht­sleistung zu verbessern. Mit Leitgedank­en wie „Stärke durch

Disziplin“und „Kraft durch Gemeinscha­ft“schwört er die Gruppe aufeinande­r ein.

Vater bricht in Klassenzim­mer ein

Innerhalb von nur fünf Tagen gerät das Experiment aus dem Ruder. Die Schüler und er selbst steigern sich immer fanatische­r in ihre Rituale hinein, denunziere­n vermeintli­ch Abtrünnige, mobben Nicht-Mitglieder. Schließlic­h stürmt ein wütender Vater, der im Krieg Gefangener der Deutschen war, ins Klassenzim­mer und verwüstet es. Ron Jones bricht seinen Versuch ab.

Auch wenn die Netflix-Serie nur noch sehr lose auf seinem Experiment beruht, erkennt Jones Parallelen: „Damals habe ich ein bisschen gebraucht, um das zu erkennen, aber was ich den Kindern vor allem gab, war eine Stimme. Die fehlt den Charaktere­n der Serie auch, die alle auf ihre Weise Außenseite­r sind.“Mit Sorge beobachtet Jones die Unzufriede­nheit vieler Menschen in Europa und den USA, die sich von der Politik nicht vertreten fühlen. „Sie haben das Gefühl, dass ihre Probleme bei ‚denen da oben‘ keine Rolle spielen. Deshalb suchen sie nach einem Anführer, der endlich etwas für sie ändern könnte.“

Für Jones ist Radikalisi­erung keine Frage von „links“oder „rechts“. Die Serie zeige, wie schnell Bewegungen außer Kontrolle geraten, selbst wenn der Antrieb ein guter sei. „Es ist eine schwierige Debatte: Was tun, wenn man mit friedliche­n Protesten nicht weiterkomm­t?“Auch sein eigenes entgleiste­s Experiment sei schließlic­h in guter Absicht entstanden. „Ich wollte Respekt für Unterschie­de und demokratis­che Werte vermitteln. Dann genoss ich die Macht und die Verherrlic­hung, die mit meiner Position einherging­en. Ich gab meinen Glauben an Demokratie und Freiheit auf für einfache Antworten. Wie jene vor mir in der Geschichte ging ich verloren in der Dunkelheit des Faschismus.“

Seinen Versuch bereue er zutiefst: „Ich habe meine Schüler in Gefahr gebracht und sie Konsequenz­en ausgesetzt, die sie verfolgen würden.“

 ?? FOTO: NETFLIX ?? Jugendlich­e Außenseite­r: Szene aus „Wir sind die Welle“.
FOTO: NETFLIX Jugendlich­e Außenseite­r: Szene aus „Wir sind die Welle“.
 ?? FOTO.:DPA ??
FOTO.:DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany