Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Wieder nur Mittelmaß
Pisa-Ergebnisse als Warnung vor Länderegoismen
Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke) betrachtet die Ergebnisse der aktuellen PisaStudie als Warnsignal an diejenigen Bundesländer, die auf Egoismus statt auf Zusammenarbeit in der Bildungspolitik setzen. Der internationale Schüler-Vergleichstest attestiert Deutschland einen Leistungsabfall in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften und einen deutlichen Abstand zur Spitze. Thüringens Lehrerverband mahnt die seit Jahren geforderten multiprofessionellen Teams an Schulen an. Ohne sie und ausreichend Lehrerpersonal sei der Abwärtstrend nicht mehr aufzuhalten.
Die erste Pisa-Studie im Jahr 2000 war ein Schock. Unvorbereitet traf damals die Bildungspolitik, aber auch die Wissenschaft die Nachricht, dass Deutschland in der Bildung im unteren Mittelfeld liegt und damit weit von der Weltspitze entfernt ist. Es folgte eine Zeit großen Eifers und vieler Reformen. 19 Jahre später hat sich einiges verändert – aber vieles auch nicht, wie die jüngsten Pisa-Ergebnisse zeigen, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurden.
Wie gut sind die deutschen Schüler?
Überdurchschnittlich, jedenfalls im Vergleich mit den anderen OECDStaaten. Im Schnitt kamen deutsche Schülerinnen und Schüler auf 498 Punkte, das sind elf mehr als im Mittel der OECD-Staaten insgesamt. 2000 lag die Bundesregierung noch unter dem Schnitt, 2009 dann im Durchschnitt der Länder.
Allerdings: Die Verbesserung im internationalen Vergleich liegt weniger an einem Sprung in den deutschen Leistungen und mehr daran, dass die Konkurrenz schlechter geworden und der Schnitt insgesamt gesunken ist. Für sich betrachtet sind die deutschen Ergebnisse etwa auf dem Niveau des Jahres 2009.
Und auch wenn deutsche Jungen und Mädchen insgesamt im internationalen Vergleich mithalten können, gibt es doch einen erheblichen Teil, der abgehängt wird. Jeder Fünfte der getesteten 15-Jährigen ist nicht in der Lage, sinnerfassend zu lesen – ein Anstieg von drei Prozentpunkten seit 2009. Nur jeder Zehnte, so Ludger Schuknecht, stellvertretender Generalsekretär der OECD, sei in der Lage, Tatsachen von Meinungen aufgrund von impliziten Hinweisen zu unterscheiden. Gleichzeitig ist seit 2009 auch die Gruppe der leistungsstarken Schüler gewachsen, von 7,6 auf 11,3 Prozent.
Ein Trend, der Experten Sorgen macht: Die Lust am Lesen geht deutlich zurück. Während die Schüler in Staaten wie der Türkei, Kolumbien und Mexiko angeben, dass sie gerne lesen, sagen in Deutschland 50,3 Prozent, dass sie nur lesen, wenn sie müssen. Das ist knapp über dem OECD-Schnitt. Und lediglich ein Viertel der befragten Schüler in Deutschland geben Lesen als eines ihrer liebsten Hobbys an. In den OECD-Staaten waren das im Schnitt 33,7 Prozent. Insgesamt hat die Lesefreude in Deutschland im Vergleich von 2009 und 2018 durch alle Schulformen hinweg rapide abgenommen.
Was sind die Gründe?
Ganz oben auf der Liste steht ein Befund, den Bildungsexperten seit Langem beklagen: In kaum einem anderen Land ist der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Lesekompetenz so stark ausgeprägt wie in Deutschland. Das bedeutet: Schüler, die aus einer sozial schwachen Familie kommen, können im Schnitt schlechter lesen als solche, deren Eltern sozioökonomisch besser gestellt sind. Seit 2009 hat sich die Zusammensetzung der Schülerschaft verändert: Der Anteil von Schülern mit mindestens einem Elternteil, der im Ausland geboren wurde, ist um zehn Prozentpunkte gestiegen und liegt jetzt bei 36 Prozent. Schüler, die selbst im Ausland geboren sind, liegen dabei in ihren Lesefähigkeiten deutlich unter dem Schnitt.
Klaus Hurrelmann, Bildungsforscher an der Hertie School of Governance, weist darauf hin, dass die Aufgaben für Schulen in den letzten Jahren gewachsen sind: „Zum einen das Thema Inklusion, wo einem großen Teil der Schulen ziemlich unvorbereitet Schüler zugewiesen wurden, die sonst an Förderschulen gekommen wären“, sagt Hurrelmann unserer Redaktion. „Das Zweite waren die Willkommensklassen.“Beides seien Belastungen gewesen, die überproportional die Schulen getroffen hätten, wo ohnehin schon die schwächeren Schüler waren. „Für die schwächeren Schüler gibt es die schlechteren
„Für schwächere Schüler gibt es die schlechteren Schulen in der schlechteren Lage.“Klaus Hurrelmann, Bildungsforscher
Schulen mit den niedriger bezahlten Lehrkräften, den ungünstigeren Räumen und der schlechteren Lage in der Stadt.“
Wer macht es besser?
Ganz oben auf der Liste stehen die vier teilnehmenden chinesischen Regionen, aber auch Hongkong, Macau und Singapur. Unter den OECD-Ländern sind die Spitzenreiter Estland, Kanada und Finnland.
Was sagt die Bildungspolitik?
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) ist unzufrieden mit den Ergebnissen. „Mittelmaß, selbst gehobenes Mittelmaß, kann in einem Land wie Deutschland, ohne Rohstoffe, nicht der Anspruch sein.“Dass 20 Prozent der Schüler auf der niedrigsten Kompetenzstufe oder sogar darunter lesen, sei „alarmierend“, so die Ministerin. „Die Leistungsschere geht auseinander.“Sie wünscht sich deshalb eine „nationale Kraftanstrengung“zur Verbesserung der Lesefähigkeiten.
Susanne Eisenmann (CDU), Kultusministerin von Baden-Württemberg, forderte vor dem Hintergrund der Pisa-Ergebnisse erneut einen Bildungsstaatsvertrag der Länder. „Die Menschen fordern zu Recht mehr Vergleichbarkeit und mehr Bildungsgerechtigkeit über Ländergrenzen hinweg“, sagte Eisenmann unserer Redaktion. Doch der von Bundesbildungsministerin Karliczek verfolgte nationale Bildungsrat sei der falsche Weg dahin. „Wir Länder selbst müssen den Bildungsföderalismus neu definieren und verbindliche und einheitliche Standards entwickeln.“
Was testet Pisa?
Das „Programme for International Student Assessment“(Programm für internationale Schülerbewertung) gilt als größte internationale Studie zum Vergleich von SchülerLeistungen. Die Federführung hat die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“(OECD), mittlerweile beteiligen sich aber auch zahlreiche Partnerstaaten an der Erhebung. Alle drei Jahre werden dabei die Fähigkeiten von 15-Jährigen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften getestet. In Deutschland wurden 5451 Schüler aus 223 Schulen getestet.