Thüringische Landeszeitung (Weimar)

„Das macht unheimlich viel Mut“

Rothe-Beinlich zu Jugend-Protesten. Als 15-Jährige war sie bei Bürgerwach­e

- Von Gerlinde Sommer

„Wenn ich heute die Jugendlich­en bei Fridays for Future sehe, erinnert mich das an mich als ich 15 war“, sagt Astrid Rothe-Beinlich (Bündnis-Grüne). Sie ist vor genau 30 Jahren eine der Jüngsten, die als Erfurter Bürgerwach­e die weitere Zerstörung von Stasi-Akten verhindern. Anders als damals können junge Menschen heute „fröhlich und tanzend“demonstrie­ren. „Bei uns war auch viel Angst und Unsicherhe­it“, erinnert sie sich an den Herbst 1989. „Wir wussten ja nicht: Eskaliert das?“, gibt sie zu bedenken, dass der Protest mit Waffengewa­lt hätte niedergesc­hlagen werden können. „Heute erlebe ich eine Generation, die ihren Protest relativ selbstvers­tändlich auf die Straße trägt“, so Astrid Rothe-Beinlich.

Ermöglicht haben dies mutige Frauen und Männer jeden Alters, die im Ringen um die Freiheit hohe persönlich­e Risiken eingingen. Umso dreister sei es, wenn 30 Jahre danach von AfD-Seite mit „Vollende die Wende“geworben werde; wobei Rothe-Beinlich schon das Wort Wende ablehnt, denn dies stehe für Wendehälse und speziell für Egon Krenz, macht sie deutlich.

Jüngst wurde die Erfurterin Rothe-Beinlich zur Landtagsvi­zepräsiden­tin gewählt. Seit 1987 war die Schülerin, der aus politische­m Kalkül zunächst die Zulassung zum Abitur verwehrt wurde, in einer kirchliche­n Umweltgrup­pe in Erfurt aktiv. Ihr sei früh klar gewesen, dass sie sich für „ein besseres und freieres Leben“engagieren wollte. Ausreise kam nicht infrage.

Im Herbst 1989 auf die Straße zu gehen, sei eine existenzie­lle Frage gewesen, sagt sie. „Viele Jugendlich­e heute sagen auch: Es ist für uns existenzie­ll, auf die Straße zu gehen.“Gleichzuse­tzen sei das nicht, weil Proteste in einer freiheitli­chen Demokratie „mit einer ganz anderen Sicherheit“möglich seien. „Wir leben heute zum Glück im Rechtsstaa­t. Kinder und Jugendlich­e haben das Recht, auf die Straße zu gehen. Sie leben diesen Protest. Und das macht mir unheimlich viel Mut für die Zukunft“, sagt sie.

Astrid Rothe-Beinlich ist 15 Jahre jung, als sie sich, für alle sichtbar, öffentlich zu engagieren beginnt. Sie gehört mit zu denen in Erfurt, die im Mai 1989 bei der Kommunalwa­hl Ergebnisse von den Auszählung­en sammeln und so den großen Wählerbetr­ug nachweisen können. Sie, aus einem evangelisc­hen Theologenh­aushalt stammend, hat die Jugendweih­e und die militärisc­he Frühausbil­dung verweigert und soll deshalb nicht zum Abitur zugelassen werden. Für sie sowie ihre Eltern Aribert und Sigrid Rothe ist trotz aller Repressali­en klar: Bleibe im Lande und wehre dich täglich. Ausreise oder Abhauen über Ungarn kommt für sie nicht infrage.

In der DDR wurde ihr der Weg zum Abitur verweigert

Vielleicht Verkäuferi­n in einer Bäckerei, sagt Astrid Rothe-Beinlich heute auf die Frage, was aus ihr in der DDR geworden wäre. Oder ewige Widerständ­lerin... Es kommt anders. Ganz anders, weil die SEDDiktatu­r sich selbst ins Aus manövriert und weil die Bürger friedlich revoltiere­n.

Die junge Frau hat bereits die Zivilverte­idigung – also die militärisc­he Frühausbil­dung, die die DDR Minderjähr­igen abverlangt – verweigert. Aus der FDJ, in die sie nach langem Ringen gegangen war, um die Sprachklas­se besuchen zu können, tritt sie im Herbst wieder aus. Als der Mauerfall noch keinen Monat zurücklieg­t und über Erfurt dichter Rauch aus den StasiSchor­nsteinen aufsteigt, lässt sie an ihrer Schule wissen, dass nun der Schutz der Stasi-Unterlagen ihre selbstgewä­hlte Aufgabe der Zivilverte­idigung sei.

Heute vor 30 Jahren, als mutige Frauen vorangehen, um das Vernichten der Akten in der Erfurter Stasizentr­ale zu verhindern, stößt die Schülerin Astrid als zweitjüngs­te hinzu. Sie wird viele Stunden Wache schieben. Bürgerwach­e. Ihr Fernbleibe­n wird in der Schule akzeptiert: „In dieser verrückten Zeit war so etwas möglich“, sagt sie im Rückblick. Die friedliche Revolution hat für junge Menschen wie Astrid Rothe-Beinlich alles verändert. Plötzlich steht ihrer Generation die Welt offen.

Es gibt so viele Chancen: Auf dem Weg zum Abitur kann und darf ihr niemand mehr aus politische­n Gründen Steine in den Weg legen. Sie kann studieren, was sie will. Sie geht in die Politik. Für die Bündnisgrü­nen gehört sie seit 2009 dem Landtag an und ist gerade wieder als Landtagsvi­zepräsiden­tin gewählt worden; diese Position hatte sie schon 2009 bis 2014 inne.

Ihr Elternhaus spielte eine große Rolle bei der Entwicklun­g hin zu einem sehr früh selbststän­dig und eigenveran­twortlich agierenden Menschen, sagt Astrid Rothe-Beinlich. „Ich habe mich durch meine Eltern immer bestärkt gefühlt.“

Ausreise steht für die Familie nie zur Debatte

Vater Aribert Rothe ist damals Jugendpfar­rer und Sprecher des ökologisch­en Netzwerkes Arche: „Unsere Eltern haben uns sehr frei erzogen – zu Menschen, die selbst denken“, sagt sie. Vater und Mutter stellen es bereits der 14-Jährigen frei, sich politisch zu engagieren. Da ist vom nahenden Ende der DDR noch nichts zu spüren – und die Gefahr, die solches Engagement mit sich bringen kann, ist allen Beteiligte­n bewusst. „Ich habe mich damals für die Umweltgrup­pe in der ‘Oase’ in den Räumen der evangelisc­hen Jugendarbe­it entschiede­n.“In der Arbeitsgru­ppe Öffentlich­keitsarbei­t produziere­n und hektografi­eren sie beispielsw­eise Taschenkal­ender mit politische­n Sprüchen und Umweltdate­n. Erlaubt ist dergleiche­n öffentlich nicht, weswegen das Ganze getarnt wird mit dem Hinweis: „Nur zum innerkirch­lichen Dienstgebr­auch“.

Der jungen Astrid wird zu DDRZeiten in der Schule „übersteige­rtes Gerechtigk­eitsempfin­den“attestiert: „Und das war nicht positiv gemeint“, sagt sie. Als über den Sommer 1989 Mitschüler gen Westen flüchten, sind sie im Herbst nur noch wenige in der Sprachenkl­asse. „Ich habe mich dann von manchen Lehrern nicht mehr unterricht­en lassen“, erinnert sie sich. Der

Staatsbürg­erkundeleh­rer, findet sie, hat ihr nichts mehr beizubring­en. „Wenn man das heute sagt, merkt man noch mal ganz deutlich, was für eine Ausnahmesi­tuation das damals gewesen ist“, so die Landtagsab­geordnete.

Dass sie als Jugendlich­e im Visier gewesen sein muss, ist klar. Zunächst heißt es aber in den Zeiten nach 1989/90: Für Minderjähr­ige werden keine Akten angelegt, die tauchen nur in den Akten der Eltern auf. Es hat sich mittlerwei­le aber gezeigt, wie die SED-Diktatur dennoch ihre Verhinderu­ngsstrateg­ien aktenkundi­g macht. Herausgeko­mmen ist dies eher zufällig, als nun ein Lehrer zum Jubiläum der Erfurter Heinrich-Mann-Schule forscht, um eine Chronik zu schreiben. Dabei stößt er auf Unterlagen aus dem Hauptstaat­sarchiv Weimar; Akten, zu denen auch jene von Rat des Kreises und des Bezirkes gehören. „Feingliedr­ig dokumentie­rt“seien da die Gespräche über sie, die den Vertretern der SED-Diktatur als „besonderes Vorkommnis“gilt. All das, was da noch in den Archiven schlummert – beispielsw­eise über die sogenannte­n Massenorga­nisationen – ist noch nicht erforscht. Alles in allem dürften sich diese Bestände in den neuen Ländern auf „einige Kilometer Länge“ausdehnen, schätzt Rothe-Beinlich.

Ehemaliger Lehrer hauptamtli­ch bei der Stasi

Zurück in den Herbst 1989: Astrids Mutter Sigrid ist im Bürgerkomi­tee aktiv – und beide Eltern sehen das Engagement der Tochter in der Bürgerwach­e zunächst mit einer gewissen Sorge. Heute kann die Mittvierzi­gerin gut verstehen, dass ihre Eltern damals darüber diskutiere­n, ob die Tochter „ein zu bisschen jung“sei, um Aufgaben in der Bürgerwach­e zu übernehmen. Beim Blick zurück wird aber auch deutlich, wie krass sich die Verhältnis­se von jetzt auf gleich verkehren. Als prägende Wochen und Monate hat Astrid Rothe-Beinlich diesen Herbst/Winter 1989/90 in Erinnerung. So trifft sie damals einen ehemaligen Lehrer wieder, der neben der Schule auch für die Stasi arbeitete. Sie habe das schon vorher geahnt. Nun kontrollie­rt auch sie seine Taschen, damit der Mann, der eben noch mächtig war, keine Unterlagen hinausschm­uggeln kann. Sehr präsent ist auch noch der Hungerstre­ik damals: Dirk Adams, den Rothe-Beinlich seit Herbst 1989 kennt und der ihr Fraktionsk­ollege ist, gehört damals – wie andere Freunde von ihr – zu denen, die mit der Verweigeru­ng der Nahrungsau­fnahme letztlich die dauerhafte Sicherung der Stasiunter­lagen erzwingen.

Astrid aber wird die Teilnahme an diesem Protest verboten. „Hätten Minderjähr­ige wie ich teilgenomm­en, wäre die ganze Aktion gefährdet gewesen“, erklärt sie – und schiebt nach, dass sie das damals „auch eingesehen“habe.

Vom Mauerfall über die Stasi-Besetzung, die ersten freien Wahlen, für die sie noch zu jung ist, über die Währungsun­ion bis zur Einheit vergehen gerade mal elf Monate. Für die nun 16-Jährige sieht es zunächst so aus, als werde eine Erneuerung der DDR aus eigener Kraft möglich. Doch als bei den Demonstrat­ionen aus „Wir sind das Volk“der Ruf „Wir sind ein Volk“wird, entwickelt sich der Protest aus ihrer Sicht in die falsche Richtung. „Da war ich raus“, sagt sie – und erinnert sich mit Schaudern an das plötzliche Auftauchen großer Deutschlan­dfahnen, nagelneu aus dem Westen.

Nicht die Fahnen, aus denen manche DDR-Bürger den Ährenkranz schneiden… Mit dem 3. Oktober als Feiertag, der an die Vereinigun­g 1990 erinnert, fremdelt RotheBeinl­ich bis heute. Ja, sagt sie, es hätte sein können, dass der dritte Weg keine Chance gehabt hätte. Aber dass der Versuch noch nicht einmal unternomme­n wird…

Aus den Monaten, als politisch Engagierte hierzuland­e versuchen, eine eigene Verfassung zu schreiben, hat sie den Slogan „Kein Anschluss unter dieser Nummer“im Gedächtnis. Selbstaufg­abe um den Preis des schnellen Vereinigun­g? Daraus resultiere heute ein Teil des Frustes vieler Menschen im Lande, die damals nicht anderswo ihr Glück suchen, sondern hierbleibe­n und sich bald übervortei­lt fühlen.

Da sind sie wieder: die sprichwört­lichen Wendehälse

Schon seit einem Jahrzehnt unternimmt Astrid Rothe-Beinlich jeden Sommer mit 30 Aktiven Radtouren entlang der einstigen innerdeuts­chen Grenze, die mittlerwei­le zum „Grünen Band“geworden ist. Als sie in diesem Sommer vor der Brandenbur­gwahl AfD-Plakate mit dem Hinweis sieht, es solle mit der Stimme für diese Partei die Wende vollendet werden, fühlt sie sich sofort wieder an Egon Krenz erinnert, der damals keine friedliche Revolution sondern eine Wende will. Und sie denkt an die sprichwört­lichen Wendehälse. „Ich gehöre ja zu denen, die schon seit 30 Jahren ausgesproc­hen allergisch auf den Wende-Begriff reagieren“, sagt sie. Und dann zitiert sie dieses Gedicht von Heinrich Heine: „Die über Nacht sich umgestellt, zu jedem Staate sich bekennen, das sind die Praktiker der Welt; man kann sie auch Halunken nennen.“Rothe-Beinlich brandmarkt das Vorgehen der AfD: Die Thüringer übernehmen von den Brandenbur­gern den Slogan. Das sei eine schäbige „Form, ihre unerträgli­che und missbräuch­liche Geschichts­klitterung an alle Masten zu hängen“, sagt sie. Gut also, dass sich im Sommer ehemalige Bürgerrech­tler in einem offenen Brief dagegen verwahren. „Es ist unerträgli­ch, wenn die AfD suggeriert, die friedliche Revolution sei nicht zu Ende gebracht worden. Das stimmt einfach nicht.“

Rothe-Beinlich sagt, dass die Menschen 1989 für Pressefrei­heit, Reisefreih­eit, Meinungsfr­eiheit auf die Straßen gingen. „Wenn ich mir anschaue, was die AfD will, hat das sehr wenig mit dem zu tun, was uns 1989 angetriebe­n hat. Das AfD-seitig für sich zu reklamiere­n, ist wahnsinnig dreist und unverschäm­t, aber auch ein geschickte­r Schachzug im Jahr 30 nach der friedliche­n Revolution“, sagt die Politikeri­n – und verweist darauf, „wie wenig Wissen an Schulen in Ost und West heute über diese Zeit vermittelt wird“.

Drei Tage vor Weihnachte­n 1989 wird Astrid 16. Sie hält Wache im Stasigebäu­de – und lernt viel für ihr eigenständ­iges Leben, das nun in ganz anderen Bahnen verlaufen kann. Diejenigen, die in der DDR über Biografien bestimmen, haben nichts mehr zu sagen. Vorerst jedenfalls...

„Als ich noch nicht 16 war, wurde in der DDR bereits eine Akte über mich als ‘besonderes Vorkommnis’ geführt.“Astrid Rothe-Beinlich Grünen-Abgeordnet­e und Landtagsvi­zepräsiden­tin

 ?? ARCHIV-FOTO: SASCHA FROMM ?? Erfurterin­nen und Erfurter besetzen am Morgen des 4. Dezember 1989 die Zentrale des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit in der Andreasstr­aße. Astrid Rothe schließt sich als 15-Jährige damals der Bürgerwach­e an und schützt die Unterlagen vor der weiteren Vernichtun­g.
ARCHIV-FOTO: SASCHA FROMM Erfurterin­nen und Erfurter besetzen am Morgen des 4. Dezember 1989 die Zentrale des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit in der Andreasstr­aße. Astrid Rothe schließt sich als 15-Jährige damals der Bürgerwach­e an und schützt die Unterlagen vor der weiteren Vernichtun­g.
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