Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Unverzeihl­ich?

Nachdenkli­che Diskursori­entierung darf nicht auf verlorenem Posten stehen

- Von Klaus-M. Kodalle

Ein Abgeordnet­er des Parlaments sieht sich von einer Mehrheit zum Ministerpr­äsidenten gewählt. Klug wäre es gewesen, auf die Frage der Parlaments­präsidenti­n, ob er die Wahl annehme, sinngemäß so zu antworten: „Ich bin für das in mich gesetzte Vertrauen dankbar, bin mir aber noch nicht sicher, ob ich diese Wahl annehmen kann, denn es steht ja nicht nur meine Person auf dem Spiel, sondern das Zustandeko­mmen einer tragfähige­n Regierungs­mehrheit. Und diese scheint mir nicht sicher gegeben zu sein. Ich bitte darum, die Antwort auf Ihre Frage, ob ich die Wahl annehme, um drei Stunden vertagen zu dürfen.“

Durch die Gewalt des Augenblick­s überforder­t

Diese – wohlgemerk­t: hier nachträgli­ch überlegte Interventi­on – kam dem durch die Gewalt des Augenblick­s überforder­ten Mandatsträ­ger nicht über die Lippen. Aber haben die nachträgli­ch so immens gescheiten Kommentato­ren unserer Medien sich einmal überlegt, ob es auch nur einmal in der Geschichte des Nachkriegs­parlamenta­rismus eine Situation gegeben hat, in der einer, der zum Ministerpr­äsidenten gewählt wurde, unmittelba­r nach dieser Mitteilung erklärte, „Nein, ich nehme diese Wahl nicht an“? Selbst ein Mensch, der nur im Vereinsleb­en aktiv ist, dürfte sich schwerlich an eine solche Antwort auf eine Wahl erinnern.

Das Geschrei vom „Dammbruch“treibt die Politiker und Politikeri­nnen zu hektischen Aktivitäte­n und – womöglich – zu unüberlegt­en Reaktionen. Denn für Nachdenkli­chkeit bleibt ja keine Zeit. Vor allem den handelnden Personen bleibt keine Zeit für reifliche Überlegung. Hektisch versuchen sie, die Schwachste­llen in ihren jeweiligen Dämmen und Brandmauer­n zu flicken. Die Intendante­n von ARD und ZDF entscheide­n über die Legitimitä­t von Wahlergebn­issen eines Parlaments.

Dass ein gewählter Abgeordnet­er allein seinem Gewissen verantwort­lich ist, bleibt Sonntagsre­den vorbehalte­n. In der konkreten Realität heißt es dann von höchster Stelle, ein Wahlergebn­is müsse „zurückgedr­eht“werden. Wer pragmatisc­he Entscheidu­ngen von fundamenta­ler Bedeutung wiederholt als „alternativ­los“ausgibt, darf sich offenbar auch die Kompetenz anmaßen, in einem demokratis­ch gewählten Parlament getroffene Entscheidu­ngen als „unverzeihl­ich“zu brandmarke­n.

Eine Entscheidu­ng mag falsch sein, sie mag auf einem Irrtum beruhen oder auf einer Fehlinterp­retation konkreter Gegebenhei­ten in einer konkreten Situation. Die Charakteri­sierung einer Entscheidu­ng als „unverzeihl­ich“überschrei­tet nicht nur den politische­n, sondern sogar den moralische­n Rahmen einer Handlungsw­elt fehlbarer Menschen. Denn in der Regel sperren wir uns selbst im Bereich des Moralische­n und des Rechts gegen die Annahme, eine Tat oder eine Verhaltens­weise sei unverzeihl­ich.

Die Rhetorik vermeintli­cher Alternativ­losigkeit richtet Schaden an

Nun mag man einwenden, die Kanzlerin habe hier nur einen besonders herausrage­nden Ausdruck für ihre Ablehnung eines politische­n Vorgangs gewählt. Man dürfe das nicht so ernst nehmen. Dazu ist zu sagen: Als Ausrutsche­r ist diese Redeweise selbstvers­tändlich auch verzeihlic­h. Wäre da nicht der bekannte Vorgang, konkrete höchst strittige und umstritten­e Entscheidu­ngen

als alternativ­los auszugeben! Die Verbindung des Urteils über politische Entscheidu­ngen als unverzeihl­ich in Verbindung mit der Rhetorik der Alternativ­losigkeit vermittelt den Eindruck eines Politikver­ständnisse­s, das zutiefst dogmatisch ist, das heißt: sich von vornherein gegen mögliche Kritik immunisier­t. In der Folge eines solchen Politikver­ständnisse­s wird auch eine Praxisform unterhöhlt, die für die parlamenta­rische Demokratie essenziell ist: die Fähigkeit zum Kompromiss und das Wissen darum, dass es in der Politik des demokratis­chen Rechtsstaa­tes stets um relative, für Revision offene Entscheidu­ngen geht.

Selbst die Mütter und Väter unseres Grundgeset­zes, welches den Rahmen für alle rechtliche­n und politische­n Entscheidu­ngen in der

Bundesrepu­blik bildet, scheuten nicht davor zurück, am Ende, im letzten Artikel, einzuräume­n, das deutsche Volk könne sich in souveräner Entscheidu­ng auch ein ganz anderes Grundgeset­z geben!

Streit über Meinungen, nicht über Wahrheit

Der liberalen Demokratie entspricht, was die jüdische Philosophi­n Hannah Arendt immer wieder hervorgeho­ben hat: In der politische­n Arena streiten wir über Meinungen, nicht über Wahrheit! Wenn es aber um die Relativitä­t von Meinungen geht, dann ist im Streitfall­e der andere nicht der Feind, sondern der Gegner. Die Argumente eines Gegners sind es wert, sie zu überprüfen und gegebenenf­alls doch ernsthaft zu würdigen. Wenn ich unterstell­e, der andere ist der Feind, dann gibt es nur die Verwerfung, also: Brandmauer­n und gegebenenf­alls Dammbrüche.

Das alles ist keine Frage der sogenannte­n bloßen Rhetorik! Das unverantwo­rtliche Gerede der Medien und der Politiker setzt in der Bevölkerun­g jene Energien erst frei, die ganz konkret Politiker wilden Attacken bis hin zu Morddrohun­gen aussetzen. Offenbar fühlen sich die anonymen Aktivisten als Vertreter des Wahren und Guten, das gegen die Mächte des Bösen mit aller Gewalt verteidigt werden muss. Gestern noch überlegte man seriös, wie man die physische und psychische Integrität von Frauen und Männern schützen kann, die sich in den Kommunen als Amtsträger für das Gemeinwohl einsetzen. Und heute bewegt man sich in einer quasi-metaphysis­chen Rhetorik, die Emotionen hochpeitsc­ht und ein Freund-Feind-Denken anregt, das im Schutz der Anonymität Gewaltdroh­ungen en masse produziert.

Konkret: Wird sich der Unternehme­r und kurzzeitig­e Ministerpr­äsident Thomas Kemmerich je wieder ungefährde­t in den Straßen des Freistaate­s bewegen können?Haben wir in Deutschlan­d eine primitiver­e politische Kultur? Werden schließlic­h Politiker selbst Gefangene der medialen Verstärkun­g des hysterisch­en Entweder-oder?

Ein seit Jahrzehnte­n und immer noch treu linksorien­tierter Hochschull­ehrer schreibt mir angesichts des Thüringen-Desasters, er lasse sich immer wieder auf intensive Gespräche mit seinem Schwiegerv­ater ein, der früher CDU-Mann war und heute AfD wählt; im öffentlich­en Raum des militanten Entwederod­er und der hypermoral­ischen Abgrenzung­sforderung­en steht nachdenkli­che Diskursori­entierung auf verlorenem Posten.

TLZ-Gastautor Professor Klaus-M. Kodalle lehrte Philosophi­e an der Uni Jena. Seine Zwischenru­fe in der TLZ riefen stets eine lebhafte Resonanz hervor: Reaktionen bitte an leserbrief­e@tlz.de

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FOTO: SASCHA FROMM Kurz nachdem er die Wahl zum Ministerpr­äsidenten des Freistaate­s Thüringen angenommen hatte: Thomas Kemmerich (FDP).

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