Thüringische Landeszeitung (Weimar)

„Die Zahl der Flüchtling­e wird stark ansteigen“

Frontex-Chef Fabrice Leggeri: Corona-Lockerunge­n führen zur Zunahme illegaler Grenzübert­ritte. „Heikle geopolitis­che Lage“in der Türkei

- Von Michael Backfisch

Monatelang blieben die Boote in den Häfen, die Flüchtling­e in Lagern oder in ihren Herkunftsl­ändern. „Die Corona-Pandemie hat die Flüchtling­s- oder Migrantenb­ewegungen fast vollständi­g gestoppt“, sagt der Chef der EUGrenzsch­utzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, unserer Redaktion. Die Behörde unterstütz­t die EUStaaten mit Polizisten bei der Überwachun­g der Außengrenz­en.

Doch nun ändert sich die Lage. „Nach den in vielen Ländern vorgenomme­nen Lockerunge­n der Corona-Maßnahmen rechnen wir mit einer starken Zunahme der Flüchtling­szahlen Richtung Europa“, betont Leggeri. Erste Auswirkung­en sind bereits sichtbar. Im Mai gab es auf den Hauptmigra­tionsroute­n in Europa fast 4300 unerlaubte Grenzübert­ritte, rund drei Mal so viel wie im Vormonat. Dies ermittelte Frontex in seinem neuesten Bericht, der unserer Redaktion vorliegt. Von Januar bis Mai registrier­te die EUAgentur 31.600 illegale Grenzübert­ritte. Das sind sechs Prozent weniger als im Vorjahresz­eitraum.

Vor allem im östlichen Mittlermee­r steigen die Zahlen. Die Strecke über die Türkei nach Griechenla­nd oder Bulgarien war erneut die „aktivste Migrations­route nach Europa“. Frontex stellte hier im Mai 1250 irreguläre Grenzübert­ritte fest, acht Mal so viele wie im April.

Alarmiert ist der Frontex-Direktor mit Blick auf die Türkei, wo er eine „heikle geopolitis­che Lage“sieht. Ende Februar hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärt, die Grenzen zur EU seien offen. Er wollte damit Druck auf die Gemeinscha­ft ausüben, um mehr Geld für die Betreuung von rund vier Millionen Flüchtling­en im eigenen Land zu überweisen.

Daraufhin machten sich Zehntausen­de Migranten auf den Weg zur Grenze nach Griechenla­nd. Als Flüchtling­e versuchten, über den Stacheldra­htzaun zu steigen, setzten griechisch­e Sicherheit­skräfte Tränengas und Wasserwerf­er ein. Nach der inoffiziel­len Einschätzu­ng von Frontex waren die Transporte von türkischen Behörden organisier­t.

Sollte die Türkei nun eine ähnliche Situation wie im März heraufbesc­hwören, würde Frontex sein Personal in Griechenla­nd kräftig aufstocken, warnt Leggeri. Bei „Krisensitu­ationen“könnte die Agentur bis zu 1500 Grenzbeamt­e schicken. Derzeit sind 600 Kräfte in Griechenla­nd im Einsatz. Der FrontexChe­f ist Provokatio­nen gewöhnt. „In den letzten Monaten haben türkische Grenzpoliz­isten am Evros mindestens fünf Mal Richtung Griechenla­nd geschossen – verletzt wurde dabei aber niemand.“

Die angespannt­e Situation an der türkisch-griechisch­en Grenze hat laut Leggeri auch mit dem gegenwärti­gen Asylsystem der EU zu tun, das „große Mängel“aufweise. Er fordert, ähnlich wie die Bundesregi­erung und die EU-Kommission, dass Asylanträg­e schon an der Außengrenz­en geprüft werden sollten. Bei einer negativen Asylentsch­eidung

müssten die Migranten sofort abgeschobe­n werden.

Leggeri kritisiert die fehlende Zusammenar­beit in der Pandemie

Für Leggeri ist funktionie­render Grenzschut­z auch Gesundheit­sschutz. „Bei Corona hat der EU die Koordinier­ung gefehlt, um die Pandemie an den Außengrenz­en zu bekämpfen“, kritisiert er. Jeder Mitgliedst­aat habe seine „nationalen

Maßnahmen“getroffen. In Zukunft müssten die Grenzbehör­den besser mit den Gesundheit­sbehörden zusammenar­beiten.

Für seine Behörde sieht Leggeri künftig auch eine „gesundheit­spolitisch­e Rolle“an den EU-Außengrenz­en. So könnten FrontexBea­mte bei Touristen künftig Fieber messen, wenn der Verdacht einer schweren Virusinfek­tion bestehe.

Angesichts wachsender Aufgaben

soll Frontex bis 2027 ausgebaut werden – von bisher 1500 Polizisten auf 10.000 Kräfte. Dieses „Standing Corps“, eine ständige Reserve der Europäisch­en Grenz- und Küstenwach­e, umfasst laut Plan 3000 feste EU-Angestellt­e und 7000 nationale Beamte. Die ersten 265 Mitglieder des „Standing Corps“– darunter drei Deutsche – werden derzeit ausgebilde­t und haben im Januar 2021 ihren ersten Einsatz.

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FOTO: DPA Migranten an Bord eines Schiffes der Reederei „Captain Morgan Cruises“, etwa 20 Kilometer vor Malta. Seit Lockerung der Corona-Maßnahmen nimmt die Zahl der illegalen Grenzübert­ritte durch Flüchtling­e zu.

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