Thüringische Landeszeitung (Weimar)
„Die Zahl der Flüchtlinge wird stark ansteigen“
Frontex-Chef Fabrice Leggeri: Corona-Lockerungen führen zur Zunahme illegaler Grenzübertritte. „Heikle geopolitische Lage“in der Türkei
Monatelang blieben die Boote in den Häfen, die Flüchtlinge in Lagern oder in ihren Herkunftsländern. „Die Corona-Pandemie hat die Flüchtlings- oder Migrantenbewegungen fast vollständig gestoppt“, sagt der Chef der EUGrenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, unserer Redaktion. Die Behörde unterstützt die EUStaaten mit Polizisten bei der Überwachung der Außengrenzen.
Doch nun ändert sich die Lage. „Nach den in vielen Ländern vorgenommenen Lockerungen der Corona-Maßnahmen rechnen wir mit einer starken Zunahme der Flüchtlingszahlen Richtung Europa“, betont Leggeri. Erste Auswirkungen sind bereits sichtbar. Im Mai gab es auf den Hauptmigrationsrouten in Europa fast 4300 unerlaubte Grenzübertritte, rund drei Mal so viel wie im Vormonat. Dies ermittelte Frontex in seinem neuesten Bericht, der unserer Redaktion vorliegt. Von Januar bis Mai registrierte die EUAgentur 31.600 illegale Grenzübertritte. Das sind sechs Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum.
Vor allem im östlichen Mittlermeer steigen die Zahlen. Die Strecke über die Türkei nach Griechenland oder Bulgarien war erneut die „aktivste Migrationsroute nach Europa“. Frontex stellte hier im Mai 1250 irreguläre Grenzübertritte fest, acht Mal so viele wie im April.
Alarmiert ist der Frontex-Direktor mit Blick auf die Türkei, wo er eine „heikle geopolitische Lage“sieht. Ende Februar hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärt, die Grenzen zur EU seien offen. Er wollte damit Druck auf die Gemeinschaft ausüben, um mehr Geld für die Betreuung von rund vier Millionen Flüchtlingen im eigenen Land zu überweisen.
Daraufhin machten sich Zehntausende Migranten auf den Weg zur Grenze nach Griechenland. Als Flüchtlinge versuchten, über den Stacheldrahtzaun zu steigen, setzten griechische Sicherheitskräfte Tränengas und Wasserwerfer ein. Nach der inoffiziellen Einschätzung von Frontex waren die Transporte von türkischen Behörden organisiert.
Sollte die Türkei nun eine ähnliche Situation wie im März heraufbeschwören, würde Frontex sein Personal in Griechenland kräftig aufstocken, warnt Leggeri. Bei „Krisensituationen“könnte die Agentur bis zu 1500 Grenzbeamte schicken. Derzeit sind 600 Kräfte in Griechenland im Einsatz. Der FrontexChef ist Provokationen gewöhnt. „In den letzten Monaten haben türkische Grenzpolizisten am Evros mindestens fünf Mal Richtung Griechenland geschossen – verletzt wurde dabei aber niemand.“
Die angespannte Situation an der türkisch-griechischen Grenze hat laut Leggeri auch mit dem gegenwärtigen Asylsystem der EU zu tun, das „große Mängel“aufweise. Er fordert, ähnlich wie die Bundesregierung und die EU-Kommission, dass Asylanträge schon an der Außengrenzen geprüft werden sollten. Bei einer negativen Asylentscheidung
müssten die Migranten sofort abgeschoben werden.
Leggeri kritisiert die fehlende Zusammenarbeit in der Pandemie
Für Leggeri ist funktionierender Grenzschutz auch Gesundheitsschutz. „Bei Corona hat der EU die Koordinierung gefehlt, um die Pandemie an den Außengrenzen zu bekämpfen“, kritisiert er. Jeder Mitgliedstaat habe seine „nationalen
Maßnahmen“getroffen. In Zukunft müssten die Grenzbehörden besser mit den Gesundheitsbehörden zusammenarbeiten.
Für seine Behörde sieht Leggeri künftig auch eine „gesundheitspolitische Rolle“an den EU-Außengrenzen. So könnten FrontexBeamte bei Touristen künftig Fieber messen, wenn der Verdacht einer schweren Virusinfektion bestehe.
Angesichts wachsender Aufgaben
soll Frontex bis 2027 ausgebaut werden – von bisher 1500 Polizisten auf 10.000 Kräfte. Dieses „Standing Corps“, eine ständige Reserve der Europäischen Grenz- und Küstenwache, umfasst laut Plan 3000 feste EU-Angestellte und 7000 nationale Beamte. Die ersten 265 Mitglieder des „Standing Corps“– darunter drei Deutsche – werden derzeit ausgebildet und haben im Januar 2021 ihren ersten Einsatz.